Klartext auf der diesjährigen DEGAM-Konferenz: Die Schere zwischen Bedarf und tatsächlicher Versorgung öffnet sich immer weiter, Ärzten mangelt es an Zeit und Patienten haben nichts von investierten Geldern.
Mit knapp 1.000 Teilnehmern und einem Rekord von 456 Abstracts hat der diesjährige Kongress der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) neue Maßstäbe gesetzt. Im Mittelpunkt standen neben Spitzenzahlen vor allem die Herausforderungen, denen sich Allgemein- und Palliativmediziner aktuell gegenübersehen. Neu gewählt wurde auch das Präsidium – nun an der Spitze: Prof. Eva Hummers, Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin der Universitätsmedizin Göttingen.
Auf der Pressekonferenz zum Kongressauftakt betonte der inzwischen ehemalige DEGAM-Präsident Prof. Martin Scherer, dass die Gesellschaft politischer geworden sei. Passend zum diesjährigen Motto „Gesellschaft und Gesundheitssystem im Wandel“ mahnte Scherer: „Wir sind an dem Punkt angelangt, wo wir zugeben müssen, so geht es nicht weiter.“ Er kritisierte, dass immer mehr Geld ins System gepumpt werde, dieses aber nicht bei den Patienten ankomme. Auf die Frage nach der freien Arztwahl für Patienten und der freien Berufswahl für Studenten blieb Scherer klar: Grundlagen müssten erhalten bleiben, aber das System brauche Veränderung. Für ihn reiche es nicht, nur gute Ressourcen zu haben. Denn: „Gute Zutaten geben noch lange keine guten Gerichte.“
Prof. Nils Schneider, Direktor für Palliativ- und Allgemeinmedizin an der Medizinischen Hochschule Hannover und diesjähriger Kongresspräsident, sieht die hausärztliche Praxis als „Spiegelbild der Gesellschaft“. Das Gesundheitssystem könne soziale Probleme nicht ausklammern. Ein Schwerpunkt des Kongresses ist demnach der demografische Wandel: Die Zahl der alten, multimorbiden Patienten wächst – gleichzeitig gibt es immer weniger Ärzte. Der wachsende Bedarf und das tatsächliche Angebot klaffen laut Schneider immer weiter auseinander.
Scherer verlangt grundlegende Strukturveränderungen – der finanzielle und organisatorische Versorgungsdruck nehme stetig zu, klassische Ordnungsmuster wie der Überweisungsvorbehalt reichen nicht mehr aus. Gefordert sei ein Ersteinschätzungssystem, mit dem Indikationen besser geprüft werden können. Auch ein Einschreibesystem für Patienten und eine klare Zuordnung von Anliegen zu den Praxen könnten helfen.
Kongresspräsident Schneider sieht das Primärarztsystem als „alternativlos“. Künftig könnten Versorgungszentren, in denen Haus- und Fachärzte im Team arbeiten, eine Lösung sein. Die neue Generation von Medizinern bevorzuge außerdem häufiger eine Anstellung und Teilzeitmodelle – der Wunsch nach einer eigenen Praxis nehme spürbar ab.
Scherer bringt es bei der Pressekonferenz auf den Punkt: „Wir haben keinen Kopfmangel, wir haben einen Arzt-Zeit-Mangel.“ Um mehr Zeit für Patienten zu ermöglichen, setzt er auf Digitalisierung und Delegation an neue Berufsgruppen. Auch Schneider sieht in einer besseren Aufgabenverteilung einen Schlüssel für die Zukunft. Die Arbeitslast müsse neu und sinnvoll verteilt werden – ein zentrales Thema des Kongresses.
In der Fragerunde am Ende der Pressekonferenz wird deutlich: Die hausarztzentrierte Versorgung scheint gerade in der Primärversorgung unerlässlich, für schwere Erkrankungen könnte auch der Facharzt als erste Anlaufstelle sinnvoll sein. Für Scherer steht fest: Eine „auf die Region angepasste Versorgung“ sei jeweils notwendig. Sein warnendes Fazit: „Es ist kurz nach 12 in unserem System“.
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