Weltweit haben die meisten Menschen mit Nierenerkrankungen keinen Zugang zu Behandlungen, in Industrienationen dagegen ermöglicht die genetische Diagnostik eine immer bessere Versorgung. Zehn Experten blicken zurück – und nach vorn.
Die Nephrologie hat in den letzten 20 Jahren bedeutende Fortschritte gemacht – ob bei neuen Entdeckungen von Krankheitsmechanismen oder innovativen Therapien. Dennoch bleiben viele Nierenerkrankungen unheilbar, die Behandlungskosten sind hoch und der Zugang zur Versorgung ist ungleich verteilt. In einem Beitrag in Nature Reviews Nephrology lassen zehn internationale Experten die Entwicklungen der letzten Jahre Revue passieren und reflektieren über Fortschritte, bestehende Herausforderungen und die nächsten Schritte. Das sind die Highlights für euch zusammengefasst.
1. SGLT2-Hemmer und neue KombinationstherapienSGLT2-Hemmer haben die Behandlung der chronischen Nierenerkrankung (CKD) revolutioniert. In Kombination mit Mineralokortikoidrezeptor-Antagonisten (MRAs), Glucagon-like Peptid-1-Rezeptoragonisten (GLP-1-RA) und klassischen Hemmern des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) schützen sie nicht nur die Nieren, sondern senken auch Herz-Kreislauf-Risiken und Mortalität.
2. Durchbruch in Genetik und molekularer DiagnostikGenetische Erkenntnisse wie die Entdeckung von APOL1-Risikogenen bei Menschen afrikanischer Abstammung oder das PLA2R-Antigen bei membranöser Nephropathie haben neue Therapieansätze eröffnet. Moderne Methoden wie genomweite Assoziationsstudien (GWAS), Next-Generation-Sequencing (NGS) und Einzelzell- und räumliche Transkriptomik ermöglichen eine immer präzisere Diagnostik und ebnen den Weg zur personalisierten Medizin.
3. KDIGO-Leitlinien und globale StandardsMit der Gründung von Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) im Jahr 2003 wurden erstmals einheitliche Definitionen und Staging-Systeme für CKD und akutes Nierenversagen (AKI) geschaffen. Seither strukturieren diese Standards die klinische Praxis und Forschung weltweit – außerdem haben sie die Vergleichbarkeit von Studien verbessert.
4. Gezielte Therapien für glomeruläre und seltene ErkrankungenNeue Medikamente wie monoklonale Antikörper (z. B. Rituximab, Eculizumab) und Komplementinhibitoren haben das Management von Erkrankungen wie Lupusnephritis, IgA-Nephropathie oder ANCA-assoziierter Vaskulitis grundlegend verändert. Auch in der pädiatrischen Nephrologie kamen „bahnbrechende“ Therapien zum Einsatz, darunter Mycophenolatmofetil (MMF), chimäre Antigenrezeptor-T-Zellen (CAR-T-Zellen) und RNA-Interferenz (RNAi).
5. Xenotransplantation als ZukunftsperspektiveDie Übertragung von Nieren genetisch veränderter Schweine auf Primaten und erste Hochrisikopatienten zeigt, dass die Xenotransplantation keine Vision mehr ist. Sie könnte langfristig den chronischen Organmangel entschärfen und die Wartelisten für Transplantationen deutlich verkürzen.
Trotz der großen Erfolge der letzten zwanzig Jahre sehen die Experten noch Herausforderungen und Hindernisse in ihrem Fachgebiet:Die Nephrologie ringt weltweit mit der enormen Krankheitslast. Der Zugang zu Versorgung ist ungleich verteilt: Die CKD betrifft besonders Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status, während Dialyse, Transplantation und neue Medikamente vielerorts unerschwinglich sind. In zahlreichen Ländern steht die CKD nicht oben auf der gesundheitspolitischen Agenda, was die bestehenden Ungleichheiten beim Zugang zur Versorgung weiter zementiert. Abhilfe schaffen können laut den Experten die konsequente Priorisierung durch Politik und Kostenträger, der Ausbau von Erstattung und Versicherung, faire Preis- und Zugangsmodelle (etwa Tiered Pricing, Generika/Biosimilars) sowie starke Public-Health-Programme in der Primärversorgung. Ergänzend kann Telemedizin Versorgungslücken in unterversorgten Regionen schließen.
Viele Studien im Bereich Nephrologie sind klein, monozentrisch, methodisch heterogen und schließen CKD-Patienten sogar explizit aus; zentrale Gruppen – darunter Frauen, Kinder, und Minderheiten – sind unterrepräsentiert. Diese Defizite behindern belastbare Evidenz und verstärken die Implementierungslücke, durch die wirksame Interventionen spät oder gar nicht in der Routine ankommen. Gegensteuern lässt sich durch systematisches Patienten- und Public-Involvement, klar definierte Kern-Outcome-Sets, pragmatische/adaptive Studiendesigns, multizentrische Netzwerke und gestraffte regulatorische Prozesse inklusive Publikationspflicht. Vorausgeplante Implementierungs- bzw. Deimplementierungs-Strategien können den Transfer in die Praxis erleichtern.
Die Nierenerkrankung ist kein Monolith: Hinter histologischen Etiketten wie Fokal-segmentale Glomerulosklerose (FSGS), membranöse Nephropathie oder Membranoproliferative Glomerulonephritis (MPGN) verbergen sich verschiedene molekulare Zustände mit unterschiedlichen Ursachen und Therapieantworten. Da Tiermodelle diese Komplexität oft nur unzureichend abbilden, sollte Forschung an Humangewebe priorisiert werden, um Studiendesigns und Therapieentscheidungen präziser auszurichten. Notwendig sind ätiologiebasierte Nomenklaturen und klare Klassifikationskriterien, eine molekulare Stratifizierung sowie ein Fokus auf gemeinsame Endstrecken wie Fibrose und tubulotoxische Schäden.
Wesentliche Datenlücken betreffen auch die globale Krankheitslast – insbesondere nicht erfasste AKI-Fälle und unbehandelte CKD – und werden durch Datensilos in Forschungseinrichtungen verstärkt. Viele Omics-Studien enden bei Pathway-Listen, ohne robuste Zielvalidierung oder klinische Translation. Benötigt werden daher föderierte Datenplattformen, die klinische Informationen, Genomik, Transkriptomik, Bildgebung und Outcomes sicher verknüpfen, sowie längsschnittliche Humanstudien mit seriellen Biopsien. Ein klar definierter Translational-Pfad vom Target bis zur Phase-II/III-Prüfung könnte den Übergang vom Labor ans Krankenbett beschleunigen.
Das Bewusstsein für CKD ist selbst bei fortgeschrittenen Stadien gering; therapeutische Trägheit und Anreizfehlsteuerungen rund um die Nierenersatztherapie lenken Ressourcen weg von Prävention und Frühintervention. Gleichzeitig hat die Nephrologie an Schnittstellenkompetenz (z. B. Urolithiasis, Onkologie) eingebüßt. Ein Gegenmodell sind risikoadaptierte Früherkennung, präventionsorientierte Incentives, integrierte Cardio-Renal-Metabolic-Programme sowie der Ausbau von Subdisziplinen wie Onko- und Intensiv-Nephrologie. In der Pädiatrie erfordern Geräteknappheit und Off-Label-Dialyse politische und regulatorische Lösungen sowie den Ausbau internationaler Programme wie IPNA-Initiativen.
Unterschiedliche Pathomechanismen wurden durch über Jahre eingeübte Narrative überdeckt – etwa die Sammelbezeichnung „diabetische Nierenerkrankung“ – und interventionelle Forschung dadurch gebremst. Während echte Interventionsstudien am Menschen seltener vorangetrieben wurden, blieb ein erheblicher Teil der Nierenforschung beschreibend. Dabei würde die Nephrologie von einem Mechanismus-first-Ansatz profitieren, der gezielt Hypothesen in humanen Studien testet und die Einordnung von Hypertonie und metabolischen Treibern neu kalibriert.
Auch künstliche Intelligenz hat großes Potenzial für Risikostratifizierung, Diagnose und Zielnominierung. Sie ist bislang jedoch nur vereinzelt implementiert und wirft ethische Fragen auf: von der Entmenschlichung der Versorgung bis zur Gefahr, kreative Forschung zu dämpfen. Ein tragfähiger Weg führt über Ethik-by-Design, Human-in-the-Loop-Konzepte und die konsequente Integration multimodaler Daten wie EHR (electronic health records, elektronische Gesundheitsdaten), Genetik, Bildgebung und Pathologie. Qualität und Akzeptanz würde durch verbindliche Regulierungen und curriculare Verankerung in Lehre, Forschung und Journals gesichert werden.
Durch die Beiträge der Experten wird klar:
Den vollständigen Artikel mit Aufführung der Experten findet ihr hier und im Text verlinkt.
Bildquelle: Midjourney