Wer krank ist, sollte sich nur um seine Genesung sorgen müssen – doch manche trifft eine Krankheit auch finanziell so hart, dass sie sich überschulden. Nur eine Gruppe scheint immun dagegen.
Schulden zu machen, ist gerade schwer angesagt – der Staat geht mit großen Schritten voran. Brenzlig wird es nur dann, wenn aus dem Verschulden eine Überschuldung wird, wenn man also laufende Verpflichtungen nicht mehr bedienen kann. Eine Auswertung des Statistischen Bundesamtes hat jetzt ergeben, dass erstmals „Krankheit, Sucht, Unfall“ der häufigste Grund für eine Überschuldung ist. Vor gut 10 Jahren lag das gesundheitliche Dreigespann mit 12,7 Prozent nach Arbeitslosigkeit, Sonstigem und Verlust des Partners noch an vierter Stelle. Jetzt hat es sich mit 18,1 Prozent auf den Spitzenplatz vorgeschoben.
Eva Münster, Professorin an der Uni Witten/Herdecke mit Schwerpunkt vulnerable Gruppen, kennt mehrere Gründe für das Zuschnappen der Schuldenfalle: weil das Einkommen ausbleibt, Kredite abbezahlt werden müssen und Medikamente und Rehamaßnahmen hohe Eigenbeteiligungen verlangen. Bislang wird das Problem weitgehend vernachlässigt: „Die damit verbundene finanzielle Belastung wird bisher viel zu wenig wahrgenommen – in der Forschung, in der Versorgung und in der Politik“, so Münster.
Während das Statistische Bundesamt die drei Ursachen Krankheit, Sucht und Unfall in einen Topf wirft, erfasst sie der Überschuldungsreport 2024 des gemeinnützigen Instituts für Finanzdienstleistungen (iff) getrennt: Aus den Angaben von über 12.000 Haushalten, gesammelt in der vom iff entwickelten Beratungssoftware CAWIN, geht hervor, dass Krankheit mit 13,1 Prozent an erster Stelle steht, deutlich vor Sucht mit 5,3 Prozent und Unfall mit lediglich 0,4 Prozent. Allerdings, so räumen die Autoren ein, könne man Sucht ebenso unter Krankheit subsummieren.
Die Daten dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es beim Thema Überschuldung erstaunlich große Wissenslücken gibt. Deshalb hat Eva Münster mit Kollegen vom iff, von der Hochschule RheinMain und der Hochschule Kempten ein Positionspapier erarbeitet, in dem sie Forschungslücken konkret benennen. Um hier weiterzukommen, bauen sie derzeit ein Netzwerk zur Überschuldungsforschung auf, das „für weitere interessierte [Wissenschaftler] zur Vernetzung und Beteiligung offen“ ist, sagt Sally Peters, leitende Gründerin des Netzwerks und Geschäftsführerin am iff.
In dem Papier heißt es: „Gesundheitliche Erkrankungen und Lebenskrisen können sowohl Ursache als auch Folge von Überschuldungssituationen sein.“ Forschung könne „wissensbasierte Entscheidungsprozesse fördern und die Wirksamkeit politischen Handelns steigern.“ Man wisse zwar, sagt Münster, dass Krankheit zu finanziellen Krisen führen können, „aber wie genau Scham, gesellschaftlicher Druck oder Brüche in der Biografie mit Überschuldung zusammenhängen, ist noch viel zu wenig erforscht“.
Was bekannt ist: Die Zahl der überschuldeten Erwachsenen wird auf über 5 Millionen taxiert. Am häufigsten trifft es Männer in Singlehaushalten mit einer Schuldenlast von durchschnittlich 30.000 Euro, wie das Statistische Bundesamt ermittelt hat. Die Perspektiven für die Betroffenen sind düster: Sie bräuchten im Schnitt 2 Jahre, um ihre Schulden zu tilgen, selbst wenn sie ihr gesamtes Nettogehalt für die Tilgung verwenden könnten – und eine gute Fee für ihre täglichen Bedürfnisse aufkommen würde.
Die Corona-Pandemie sowie steigende Kosten für Miete und Lebensunterhalt haben das Problem verschärft. Viele Menschen schämen sich wegen ihrer misslichen Lage und fürchten Stigmatisierung, weshalb sie zu spät oder gar keine Hilfe suchen. Deshalb fordern Münster und Kollegen, das Thema Überschuldung aus der Schmuddelecke zu holen und zu enttabuisieren.
Auch wenn offenbar jede Diagnose zu Überschuldung führen kann, scheint es Krebspatienten besonders hart zu treffen: Rund 80 Prozent von ihnen, schätzt Münster, sind durch Therapie und Arbeitsausfall „in erheblichem Maße finanziell belastet“. Das Phänomen wird „finanzielle Toxizität“ genannt. Zu Ende gedacht, müsste sie eigentlich als häufige Nebenwirkung im Beipackzettel stehen.
Ärzte sollten zusätzlich zur rein medizinischen Hilfe ihre Patienten über die drohende Schuldenfalle aufklären und Tipps für Unterstützung geben. Rat bekommen Menschen etwa über die Beratungshotline der „Stiftung Deutschland im Plus“, die auch den Überschuldungsreport des iff gefördert hat. Möglich wären auch spezielle Kursangebote für Patienten, damit sie lernen, trotz knapper Kasse über die Runden zu kommen und Härtefallregelungen oder Befreiung von Zuzahlungen zu beantragen. Generell sollten Budgetberatungen schon präventiv ansetzen und nicht erst, wenn die Schulden den Patienten bereits die Luft abschnüren.
Dass eine Gruppe von Beschäftigten gegen Überschuldung auch bei schwerer Krankheit praktisch immun ist, zeigt exemplarisch ein Fall aus dem niederrheinischen Wesel: Wie die Süddeutsche Zeitung Ende August berichtete, war eine verbeamtete Berufsschullehrerin 16 Jahre lang krankgeschrieben – bei vollen Bezügen. Was den Fall besonders pikant macht: Erst 2024 wurde sie vom Dienstherren aufgefordert, den Amtsarzt aufzusuchen. Statt ihrem Schöpfer für die vielen unbehelligten Jahre zu danken, klagte sie gegen die Vorladung. Wieso solle sie jetzt zum Amtsarzt, so ihre Begründung, wenn doch all die Jahre die monatlich abgegebenen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen genügt hätten. „Ein völlig idiotisches Argument“, empört sich der Essener Fachanwalt für Arbeitsrecht Ralf Delgmann in der SZ. Entsprechend erfolglos war auch die Klage der Lehrerin.
Tatsächlich hat der Fall noch eine Pointe: Vermutlich arbeitete die Lehrerin trotz ihrer Krankschreibung nebenbei als Heilpraktikerin (!). Sie entging also dank ihres Beamtendaseins nicht nur der Schuldenfalle, sondern hat sich wahrscheinlich noch ein paar Extrabrötchen dazu verdient – Zeit hatte sie ja. Nun droht ihr ein Disziplinarverfahren. Bestätigt sich der Verdacht, könnte der Pleitegeier doch noch über ihr kreisen. Denn sie verlöre ihren Beamtenstatus, ihr Gehalt und ihre Pension. Immerhin hatte sie 16 Jahre Zeit, ein hübsches Sümmchen auf die hohe Kante zu legen. Davon könnte sie dann zehren, denn die Bezüge, die sie Monat für Monat überwiesen bekommen hat, dürfte sie behalten.
Statistisches Bundesamt: Überschuldungsstatistik. Destatis, 2024. online
Institut für Finanzdienstleistungen (iff): Überschuldungsreport 2024. online
Institut für Finanzdienstleistungen (iff): Positionspapier „Leerstellen und zukünftige Strategien“, 2024. online
Statistisches Bundesamt: Pressemitteilung Nr. 275 vom 17. Juli 2024. Destatis, 2024. online
Uni Witten/Herdecke: Pressemitteilung „Finanzielle Belastung durch Krebserkrankung“. 2025. online
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