Ein kleiner Piks und der Schmerz ist weg? Klingt gut, funktioniert leider nur mäßig. Die Ohrakupunktur soll bei so ziemlich allem helfen – von Schmerzlinderung bis zur Suchttherapie. Was sagt die Wissenschaft?
Die Ohrakupunktur, auch als Aurikulotherapie bezeichnet, ist eine spezielle Form der Akupunktur, die ausschließlich an der Ohrmuschel durchgeführt wird. Sie wurde in den 1950er Jahren vom französischen Arzt Paul Nogier entwickelt.Obwohl sie kein Bestandteil der klassischen traditionellen chinesischen Akupunktur ist, wurde sie später sowohl in China als auch international verbreitet. Oft wird jedoch fälschlich angenommen, sie gehöre zur klassischen Akupunktur.
Nogier ging davon aus, dass sich der gesamte menschliche Körper in der Ohrmuschel widerspiegelt – ähnlich einem auf dem Kopf stehenden Embryo in Hockstellung. Diese Theorie basiert auf dem Konzept der sogenannten Somatotopie: der Annahme, dass jedem Bereich im Gehirn ein bestimmtes Körperteil oder ein Organ zugeordnet ist. Diese „körperliche Landkarte“ des Gehirns – bekannt durch den sensomotorischen Homunculus – wird in der Aurikulotherapie auf die Ohrmuschel übertragen. Störungen in betroffenen Körperregionen sollen sich durch veränderte elektrische Eigenschaften oder eine erhöhte Druckempfindlichkeit dieser Ohrpunkte bemerkbar machen.
Diese sogenannten Reaktionsstellen werden dann diagnostisch und therapeutisch genutzt. Die Behandlung erfolgt in der Regel mit sehr feinen Akupunkturnadeln, die in diese Punkte gestochen werden. Alternativ kommen auch Magnetchips, Massagegriffel oder kleine Druckkügelchen zum Einsatz. Zudem gibt es Formen wie die Laserakupunktur, bei der die Punkte mit Licht anstelle von Nadeln stimuliert werden sollen. Eine weitere Variante ist die Implantatakupunktur, bei der Titanstifte dauerhaft in die Ohrmuschel eingesetzt werden. In Deutschland ist die Ohrakupunktur vor allem unter – Überraschung – Heilpraktikern und pseudomedizinisch arbeitenden Ärzten verbreitet.
Viele Befürworter der Ohrakupunktur sehen in ihr ein hilfreiches Mittel bei akuten und chronischen Schmerzen, Allergien, rheumatischen Erkrankungen und Magen-Darm-Beschwerden. Besonders häufig wird sie auch zur Suchtbehandlung wie Raucherentwöhnung, Alkohol- oder Drogenabhängigkeit angeboten. Ein weiterer Anwendungsbereich ist die begleitende Therapie bei Krebserkrankungen zur Linderung von Nebenwirkungen.
Es gibt inzwischen mehrere große Auswertungen von Studien, die zeigen, dass Ohrakupunktur bei Schmerzen rund um Operationen, bei Angst vor einem Eingriff und bei Schlafproblemen manchmal helfen kann – wenn auch nur in geringem Ausmaß. In manchen Studien reduzierte sich die Schmerzintensität nach Operationen, und der Bedarf an Schmerzmitteln war geringer. Auch bei psychischer Belastung wie Stress oder Schlafproblemen berichten Patienten regelmäßig von einer beruhigenden Wirkung.
Wie ist das also zu bewerten? Die Studien zeigen zwar positive Tendenzen, die Effekte sind jedoch gering und die Qualität der Untersuchungen meist schwach. Das bedeutet: Wenn eine Wirkung eintritt, dann nicht durch die Punktwahl am Ohr, sondern durch Faktoren wie die Behandlungssituation, den Körperkontakt, die Erwartung – und ganz besonders durch den Placeboeffekt. Die zugrunde liegende Theorie ist nämlich nicht haltbar.
Die Vorstellung, der ganze Mensch sei in Form eines Embryos auf der Ohrmuschel abgebildet, ist anatomisch und physiologisch unsinnig. Es gibt keinen Beweis für eine solche Projektion – die angeblichen Punktzuordnungen widersprechen sich zudem je nach Schule oder Quelle. Die Befürworter der Methode argumentieren – wie immer, wenn keine wissenschaftliche Evidenz auf ihrer Seite ist – mit positiven Erfahrungsberichten und individueller Besserung. In einer Untersuchung zur Raucherentwöhnung hatten nach zwei Monaten zwar 38,5 Prozent der Teilnehmer das Rauchen aufgegeben, das entspricht allerdings ungefähr dem, was man auch ohne Ohrakupunktur erwarten kann.
Eine Sitzung kostet etwa dreißig bis vierzig Euro, die in Deutschland nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird. Die Methode ist außerdem nicht frei von Nebenwirkungen. Direkte Nebenwirkungen wie lokale Infektionen oder Knorpelentzündungen sind möglich, da das Ohr schlecht durchblutet ist.Indirekte Risiken bestehen vor allem darin, dass durch den Glauben an die Wirksamkeit der Methode eine notwendige medizinische Behandlung verzögert oder unterlassen wird – wie es so oft in der Pseudomedizin der Fall ist.
Bildquelle: Midjourney