KOMMENTAR | Cholesterinsenker können Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern – einer Studie zufolge greifen jedoch viel zu wenige Menschen zur Tablette. Weshalb Ärzte trotzdem nicht sofort den Rezeptblock zücken sollten.
„Zehntausende Herzinfarkte und Schlaganfälle könnten jedes Jahr verhindert werden, wenn Cholesterinsenker entsprechend der Leitlinien eingenommen werden würden“. So lautet die Takehome-Message einer Forschergruppe der Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health’s Department of Epidemiology. In ihrer Studie zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen hatten sie an 5.000 Erwachsenen im Alter von 40 bis 75 Jahren die Differenz zwischen Soll und Ist der Einnahme von Lipidsenkern in den USA ermittelt.
Die Probandengruppe bestand aus Teilnehmern des US National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES), in dem Daten zu sozioökonomischem Status, Ernährung und Gesundheitszustand eines repräsentativen Ausschnitts der US-Bevölkerung erhoben wurden. Anhand der Daten konnten die Autoren einerseits ermitteln, wie viele Personen eine medikamentöse Prophylaxe erhielten und andererseits, wie viele eine erhalten sollten. Dieser Soll-Wert orientierte sich an den Empfehlungen der US-amerikanischen AHA/ACC Guideline von 2018 und der europäischen ESC/EAS Guideline von 2020 zur Reduzierung hoher Werte des Low-Density Lipoproteins.
Laut der Leitlinien sollten die Hälfte der Probanden ohne weitere Erkrankungen und ohne bereits erlittenen Herz-Kreislauf-Vorfall – das waren 89 Prozent der Teilnehmer – vorsorglich Statine und ähnliche Mittel einnehmen. Das heißt: Den Berechnungen der Autoren zufolge sollte sich jeder zweite beschwerdefreie, mithin als gesund geltende Mensch über 40 Jahren in Dauermedikation begeben. Tatsächlich aber folgten davon nur die Hälfte dem von den Fachgesellschaften ausgesprochenen Rat. Hochgerechnet auf die US-amerikanische Gesamtbevölkerung sind also wider besseres Wissen 27 Millionen US-Bürger mit Lipidsenkern unterversorgt.
In den Augen der Autoren noch alarmierender ist der Befund bei Menschen, die bereits einen Herz-Kreislauf-Vorfall hinter sich haben. Diese Personen sollten gemäß Leitlinien alle behandelt werden – tatsächlich aber nahmen nur zwei Drittel die Medikamente ein. Würden alle Menschen den US-Leitlinien folgen, so errechnen die Autoren, würde das Risiko für Herz-Kreislauf-Vorfälle um 27 Prozent sinken. Damit ließen sich in den USA jährlich 100.000 nicht-tödliche Herzinfarkte und 65.000 Schlaganfälle verhindern, dazu zehntausende Stents und Bypass-Operationen.
Richteten sich die Menschen nach den noch aggressiveren EU-Grenzwerten, ließen sich sogar doppelt so viele Erkrankungen vermeiden: „Millionen Menschen laufen draußen mit diesem Risiko herum, und wissen nicht, dass sie es haben“, sagt Senior-Autor der Studie Seth S. Martin von der Johns Hopkins University School of Medicine.
Lässt sich die Studie auf hiesige Verhältnisse übertragen? Laufen also auch bei uns Millionen Menschen herum, die sich – zu Unrecht – daran erfreuen, gesund zu sein? Ich habe zwei Einwände: Zum einen sind die USA, was die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen angeht, nach EU-Definition vermutlich ein Hochrisikoland, für Deutschland wird ein moderates Risiko angenommen. Das macht einen erheblichen Unterschied bei der Berechnung des individuellen Risikos. Laut Risiko-Tabelle des ESC 2021 hat ein 60-jähriger, nicht rauchender Mann mit einem systolischen Blutdruck von 140 und Nicht-HDL-Werten von unter 3,9 mmol/L in Deutschland ein Zehn-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis von 9 Prozent, aber in den USA von 17 Prozent.
Zum anderen gehen die Meinungen auseinander, wann sinnvollerweise interveniert werden sollte. So ist die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) in ihrer S3-Leitlinie „Hausärztliche Risikoberatung zur kardiovaskulären Prävention“ vom November 2024 hinsichtlich der Massenmedikamentierung wesentlich defensiver eingestellt.
Die DEGAM spielt das Problem dabei keineswegs herunter: „Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind mit erheblichen individuellen Krankheitsfolgen verbunden und verursachen zudem hohe gesellschaftliche Krankheitskosten.“ Auch sterben über die Jahre in absoluten Zahlen mit knapp 350.000 Menschen gleichbleibend viele Menschen. Allerdings haben sich die Zahlen in den vergangenen 20 Jahren altersstandardisiert halbiert.
Die DEGAM begründet ihre Zurückhaltung mit der ihrer Ansicht nach nicht ausreichenden Evidenz für den Netto-Nutzen eines aggressiven Lipidsenkens. Darüber hinaus ist sie grundsätzlich skeptisch gegenüber einem enthemmten präventiven Einnehmen von Lipidsenkern, obwohl grob gerechnet eins von drei kardiovaskulären Ereignissen verhindert werden könnte.
Die Einwände richten sich gegen die Art der Maßnahmen. Dabei vergleicht die DEGAM Verhaltensprävention, wie die Einnahme von Statinen, mit Verhältnisprävention, wie etwa einer Sondersteuer auf übermäßig gesalzene Lebensmittel. So sind laut DEGAM Maßnahmen der Verhaltensprävention häufig weniger kosteneffektiv und sie fördern die gesundheitliche Ungleichheit, weil, etwas zugespitzt, die Menschen, die es am nötigsten hätten, am schwersten erreichbar sind.
Zudem bringt die DEGAM eher allgemeine Bedenken ins Spiel: Gerade ältere Menschen mit aggressiver LDL-Senkung zu behandeln „würde bedeuten, einfach den Prozess des Alterns medikamentös behandeln zu wollen“. Außerdem kosten Präventionsmaßnahmen, den errechneten Einsparungen von Alexander et al. zum Trotz, Ressourcen. So zeige eine Simulationsstudie, dass alle Empfehlungen der US-Task Force zur Primär- und Sekundärprävention auf einmal gar nicht umsetzbar wären, schließlich würden sie 8,6 Stunden pro Arzt und Tag, also 131 Prozent der verfügbaren Stunden, beanspruchen. Dabei ist die US-Task Force für ihren streng evidenzbasierten Ansatz jenseits von Klientelpolitik bekannt.
Auch für Deutschland gilt vermutlich, dass das Gesundheitssystem auf der Stelle kollabieren würde, wenn sich alle Bürger an die empfohlenen Präventionsmaßnahmen hielten. Und selbst bei unbegrenzten Ressourcen verbrächten die Menschen dann sehr viel mehr Zeit für Vorsorge, Früherkennung, Abklärung und Behandlung in Arztpraxen – Zeit, in der sie auch spazieren gehen, ein Buch lesen, sich mit Freunden treffen oder einfach die Seele baumeln lassen könnten.
Konkret nimmt die DEGAM-Leitlinie auch zur Cholesterinsenkung Stellung. Sie empfiehlt im Wortlaut:
Begründung zu Punkt 3: Bei Personen über 75 Jahre könne „der Nutzen in einen Schaden umschlagen“. Andere altersbedingte Todesursachen könnten nämlich dazu führen, dass die Wirkung der Lipidsenker verpufft und am Ende trotz Medikamenten nicht weniger Menschen sterben.
Zu Punkt 1: Dass seit Beginn des Jahres Lipidsenker bereits ab einem kardiovaskulären Risiko von über 10 Prozent statt wie zuvor ab 20 Prozent auf Kassenkosten verschrieben werden dürfen, ist für die DEGAM kein ausreichendes Argument, die 10-Prozent-Grenze zu empfehlen. Welche Bedeutung die Grenze hat, veranschaulicht ein Blick in die ESC 2021 Risiko-Tabelle: Die 10-Prozent-Marke reißt bereits ein 50-jähriger Nichtraucher mit Nicht-HDL-Werten über 6 mmol/l und einem Blutdruck über 160, oder auch ein 65-jähriger mit Top-Cholesterinwerten und Top-Blutdruck. Die 20-Prozent-Marke wird dagegen auch bis zum Alter von 69 Jahren von keinem Nichtraucher überschritten, egal wie hoch sein Blutdruck und sein Cholesterinwert sind.
An der Leitlinie waren neben der DEGAM als federführender Fachgesellschaft noch 16 weitere Fachorganisationen beteiligt. Sechs davon – von der Deutschen Hochdruckliga über die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin bis hin zur Deutschen Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention – legten hier ein Sondervotum ein. Sie pochen darauf, schon ab einem Risiko von 10 Prozent „neben notwendigen Lebensstilveränderungen eine bedarfsgerechte Statintherapie zu empfehlen“, und „bei einem Risiko von 7,5 Prozent eine Statintherapie zu erwägen“.
Dissens gibt es auch darüber, wie und in welcher Dosis Statine verabreicht werden sollten. Während die DEGAM und weitere 10 Fachorganisationen eine feste, moderate Dosis für angemessen halten, kontern die sechs abweichlerischen Fachorganisationen: „Eine Fix-Dosis-Statin-Strategie negiert die quantitative Bedeutung des LDL-Cholesterins als kausalen Faktor der Atherosklerose.“ Tatsächlich empfiehlt auch die ESC-Guideline von 2021 „hochwirksame Statine in der höchsten noch tolerierten Dosis zu verschreiben, um die LDL-Ziele zu erreichen“.
Am Ende entscheidet natürlicher jeder selbst, ob er mit der präventiven Einnahme von Tabletten sein Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko senken möchte. Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es dafür gute Gründe, schließlich zählt hier in erster Linie der Gewinn an Lebenszeit und der ist weitgehend unumstritten. Aus menschlicher Sicht zählen daneben auch Aufwand, Trägheit und Verdrängung – vor allem ein Wert, den die Menschen offenbar hoch schätzen: das wunderbare und unbeschwerte Gefühl, gesund zu sein.
Bildquelle: Fellipe Ditadi, Unsplash