KOMMENTAR | In der Zahnmedizin wird häufiger als nötig in Vollnarkose behandelt – besonders bei Kindern kann das lebensgefährlich sein. Warum ich eine Zweitmeinung immer sinnvoll finde und was sich außerdem verändern muss.
Kürzlich sprach ich mit einem Kollegen über Zahnbehandlungen von Kindern. Er habe auf Kinderbehandlung überhaupt keine Lust mehr. Die Arbeit sei zu zeitintensiv, belastend und – als sei dies nicht schon genug – sie werde überhaupt nicht adäquat honoriert. So käme nach langer Behandlungsanstrengung oftmals lediglich eine Füllung dabei heraus und das sei angesichts der Betriebskosten von 300 € pro Stunde ganz und gar nicht kostendeckend. Er würde Kinder daher zur Kinderzahnärztin überweisen. Wie dort das Honorardilemma gelöst werde, sei ihm nicht bekannt.
Vor einiger Zeit erreichte mich auch eine Nachricht von einer Mitarbeiterin einer Kinderzahnarztpraxis: Sie habe gekündigt. Ihre Arbeit habe sie immer geliebt, könne aber nicht mehr mit ansehen, dass Kinder mit einzelnen, kleinen kariösen Defekten regelmäßig narkotisiert würden und dann mit sehr vielen Füllungen aus der Narkose erwachen. O-Ton: „Kein Fall unter 1.000 €.“
Nun müssen diese beiden Einzelfallbeschreibungen weder miteinander in kausalem Zusammenhang stehen, noch sollte der geneigte Leser davon ausgehen, dass diese Praxis – sollte hier ein Zusammenhang bestehen – öfter auftritt als n=1, mit anderen Worten also „gängig“ sei.
Ich kenne beide Seiten der Medaille, habe in der Uni-Klinik Dentalsanierungen in Intubationsnarkose (ITN) durchgeführt, als niedergelassener Zahnarzt in über 30 Jahren jedoch nicht ein einziges Kind zur Behandlung von Milchzähnen zur Narkose überwiesen. Mit meiner Kritik stehe ich zwar einsam, aber nicht alleine da (hier). Nicht nur meiner Meinung nach steht das Risiko wegen der noch immer fehlenden Definition ambulanter Narkose-Standards in keinem Verhältnis zum erwartbaren Nutzen.
Auf mich wirkt diese völlig unkontrollierte Anwendung einer so wichtigen Maßnahme nach wie vor äußerst irritierend. Ein Beispiel: Wenn ich für einen Patienten bei der Krankenkasse Zuschüsse für die Versorgung mit Kronen beantrage, wird routinemäßig – sollte meine Planung mehr als vier Zähne betreffen – ein Gutachten eingeleitet. Wenn ich hingegen ein Kind narkotisieren lassen möchte und den Eltern sage, diese Zahnbehandlung sei ausschließlich in Narkose zu bewerkstelligen, so interessiert dies trotz regelmäßig aufgetretener schwerer Zwischenfälle, ganz genau: niemanden.
Am 24.02.23 habe ich der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) geschrieben und nach der Häufigkeit von Todesfällen im Zusammenhang mit Milchzahnbehandlungen in ITN gefragt. Die Antwort darauf erhielt ich am 09. März 2023 von Dr. Gösling: Der BZÄK lägen hierzu keinerlei Statistiken und keine konkreten Zahlen vor. Zwei Monate später, im Mai 2023, hatte man offensichtlich recherchiert, dass es in den vergangenen 10 Jahren zu vier Todesfällen und einem Pflegefall gekommen sei. Hiervon wurde ich weder benachrichtigt noch wurde mir irgendeine Information zu den zwischenzeitlich erfolgten Recherchen gegeben. Mir ist klar, dass die BZÄK bis zur Halskrause in Arbeit steckt und sich für zusätzliche Themen nur begrenzt Zeit erübrigen lässt. Doch das Thema ist viel zu wichtig, um es damit „abzuhaken“. Fünf schwere Zwischenfälle innerhalb von 10 Jahren sind meines Erachtens nicht hinnehmbar.
Hinzu kommt, dass man sich bei der Wahrscheinlichkeit auf Schätzungen beruft (wer schätzt hier wann und was?). Weil, wie im Rundschreiben der KZBV-Bremen, Ausg. 2/2024 auf Seite 7 zu lesen: „Aus zurückliegenden Befragungen der KZVen zum Thema hat die KZBV entnehmen können, dass ‚Struktur- oder Abrechnungsdaten zu Behandlungen in Intubationsnarkosen – wenn überhaupt – nur punktuell und somit nicht flächendeckend vorliegen.‘ Um diese Informationslücke schließen zu können und Daten aus den Praxen zu erhalten, hat die KZBV eine Online-Umfrage zum Thema konzipiert.“ (Anm. d. Red.: Der Ausschnitt aus dem Rundschreiben liegt der Redaktion vor, ist jedoch nicht öffentlich verfügbar.) Mit anderen Worten: Es wird konstatiert, dass niemand genaue Zahlen zum Thema „Häufigkeit von Dentalsanierungen in ITN“ hat. Die Häufigkeit ist also trotz umfangreicher Datenerhebung bis dato ein einziger blinder Fleck.
Die strukturellen Probleme der Anästhesie sind der BZÄK bekannt: Noch immer existieren keinerlei validen Mindest-Standards für das Equipment (siehe Interview mit Jörg Karst). In einer Stellungnahme der BZÄK heißt es: „Der Anästhesist trägt die Verantwortung für das eingesetzte Anästhesieverfahren als auch für die Überwachung und Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen während des Eingriffes und postoperativ.“ Wer trotz dieser bekannten strukturellen Probleme, die in den vergangen 10 Jahren, nur im Bereich der Dentalsanierungen, zu vier Todesfällen und einem Pflegefall geführt haben, die Verantwortung alleine in der Anästhesie verortet, sollte diese Einstellung grundlegend überdenken.
So sieht es auch der BGH. In der Aufarbeitung eines Falls, der 2016 nach einem 8-stündigen dentalen Narkosemarathon zum Tod eines 18-jährigen Phobie-Patienten führte, hob er kürzlich die Urteile wieder auf. „Hintergrund ist die Frage, ob die Zahnärztin aufgrund der sehr langen Operation genauer hätte mitplanen müssen, statt diesen Teil ausschließlich dem Anästhesisten zu überlassen. Zudem müsse geklärt werden, ob die Zahnärztin den Narkosearzt über die Überschreitung der geplanten OP-Zeit informierte. Diese Aspekte habe das Landgericht nicht erkennbar bedacht, begründete der BGH seine Entscheidung.“
Mir persönlich ist es vollkommen schleierhaft, warum in diesem tragischen Fall ein 18-jähriger Patient für eine Dentalsanierung sage und schreibe 8 Stunden narkotisiert worden ist. Gehe ich als Zahnarzt mal vom Worst-dental-Case aus: ein desolates Gebiss in Kombination mit einer Behandlungsphobie. Dann benötigt ein chirurgisch versierter Zahnarzt, wenn alle Zähne extrahiert werden, eine Interims- oder Immediat-Prothese in Narkose eingegliedert wird, dennoch maximal eine Stunde. Für mich drängt sich daher die Frage auf, ob bei dem heranwachsenden Phobie-Patienten überhaupt eine indikationsgerechte Behandlung durchgeführt wurde. Angesichts der Phobie dürfte diese ausschließlich auf das Notwendigste beschränkt sein und nicht auch noch zeitaufwendige und potenziell überflüssige Behandlungsmethoden beinhalten. Die Röntgenaufnahme sollte hier für sehr schnelle Klärung sorgen.
Aus meiner Sicht gibt es klare Handlungsmöglichkeiten, um die Zahl künftiger Todesfälle im Zusammenhang mit Dentalsanierungen zu reduzieren oder im Idealfall zu verhindern. Zum Schutz der Patienten sollten die konkreten, narkoseunterstützten Behandlungsmaßnahmen vorab (!) nach dem Vier-Augen-Prinzip in einem Gutachter- oder Zweitmeinungsverfahren festgelegt werden. Schließlich ist in jeder Klinik eine Behandlungsplanung narkoseunterstützter Verfahren nach dem Vier-Augen-Prinzip selbstverständlicher Bestandteil der Qualitätssicherung. Das war noch nie verhandelbar und wird es vermutlich auch nie werden. Erst recht nicht, wenn es sich um elektive Eingriffe handelt.
Um außerdem die Gefahr weiterer Todesfälle im Zusammenhang mit Milchzahnsanierungen in ITN zu vermeiden, muss dringend aufgeklärt werden:
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