Ramin hat eine erschütternde Vergangenheit: Er wurde gefoltert, verfolgt und verurteilt. Laut Anklage ist er ein Schläfer der ISIS. Mein Gefühl sagt etwas anderes. Wer täuscht sich hier?
Gestern habe ich einen Gefangenen mit nach Hause genommen. Natürlich nicht wirklich – das wäre komisch. In meinem Kopf. Ein Syrer in den 30ern. Ein charmanter, gebildeter und sehr sympathischer junger Mann, nennen wir ihn Ramin. Ramin hat zwei Studiengänge abgeschlossen. Beim dritten – interkulturelle Kommunikation – kam dann der Krieg dazwischen. Er spricht fünf Sprachen fließend und drückt sich deutlich eleganter aus, als ich es meist tue. Man wirft Ramin vor, Mitglied einer terroristischen Vereinigung zu sein.
Er erklärt mir, wie dieses Missverständnis zustande kam und überzeugt mich, dass er natürlich KEIN Terrorist sei. Nichts in mir zweifelt an seiner Version. Er berichtet von seiner Zeit im Assad-Gefängnis. Folter mit Strom. Mehrfach die Woche wurden Mitinhaftierte, Freunde, teilweise Cousins vor den Augen aller anderen geköpft. Es gab hierfür einen speziellen Platz, er nannte ihn einfach nur den „Kreis“. Ich hörte mir an, wie er dank eines befreundeten Wärters seinem Todesurteil entkommen konnte. Er berichtete von seiner Flucht. Geschichten, wie ich sie schon zigfach geschildert bekam, die mich jedes Mal aufs Neue verstören und mich demütig für jede Sekunde meines privilegierten Lebens danken lassen.
Nachts aus dem Gefängnis der Hölle entkommen, rennt er, bis seine Lungen wie Feuer brennen. Zu seinem Haus. Er greift sich Papiere, ein paar Klamotten und das Bargeld, das längst für eine Flucht gebunkert in einem Versteck liegt. Der Abschied von seiner Frau ist kurz: „Ich lebe. Ich gehe in den Westen. Ich liebe dich mehr als mein Leben.“ Sie weint nicht. Sie weckt die Kinder nicht. Sie funktioniert. Sie holt das Handy des ältesten Sohnes und ein Ladekabel und steckt es in seine Tasche. Er nimmt ihr Gesicht in beide Hände. Dann dreht er sich um und rennt in die Nacht mit nichts als dem Wissen, dass es nirgendwo anders schlimmer sein kann als daheim.
Sein Schleuser steht bereit. Es ist ein lukratives Geschäft; so wird in der Regel ein 24/7-Service aufrechterhalten. Ramin klettert in den Unterbau eines Kleintransporters – eine Art Wanne, die vor dem Benzintank an den Unterboden geschweißt wurde. Platz für zwei Leute und etwas Gepäck. So geht es raus aus dem Bereich, der durch ISIS kontrolliert wird. Vier Stunden Fahrt. Man darf vorher nichts trinken. An der Küste angekommen klettert er hüftsteif aus seinem Blechgrab, packt seinen Rucksack und wird von einer schwarz gekleideten Person hektisch zu einer Gruppe Wartender geschoben. Männer, Frauen und Kinder. Stille. Angst. Niemand verliert ein Wort darüber, dass zirka achtzig Menschen am Rande des Wassers stehen und das Boot, dass soeben einfährt, für maximal zwanzig Personen ausgerichtet ist. Wer sich beschwert, bleibt an Land. Gezahlt ist bereits.
Zusammengepfercht, die Koffer auf den Knien und den Atem des Nachbarn in der Nase beginnt die Gruppe ihre Reise; schwerfällig schaukelnd setzt sich das Gefährt in Gang. Gischt und Wellen schlagen über den viel zu tief liegenden Bootsrand. Füße stehen in tiefen Pfützen, Wasser dringt in die Schuhe. Kälte. Ein Kind weint. Ramin denkt an seine drei Kinder. Der Gedanke schneidet wie ein rostiges Messer in sein Herz. Sein Magen krampft sich zusammen, sodass er sich lieber wieder auf die Kälte und die Angst konzentriert. Bis Mitternacht läuft alles nach Plan. Doch plötzlich beginnt das Wasser im Boot zu steigen.
Auf dem Boot wird es unruhig. Alle sprechen durcheinander. Panik bricht aus. Doch für Panik ist auf dem Boot kein Platz. Menschen stehen auf, schlagen um sich, schreien, das Boot gerät ins Wanken. Ramin hat Schwierigkeiten, im Sitzen nicht umzufallen. Chaos. Plötzlich erhebt sich der Mann am Ruder und zückt eine Waffe. Er zielt auf einen dürren Typen, der soeben noch hysterisch über die anderen Menschen kletterte. Mit einem Mal ist es gefährlich ruhig. Da sind nur noch die Wellen, die gegen das Boot klatschen und die ohrenbetäubend stille Bedrohung durch den Steuermann mit der gezogenen Waffe. Niemand zweifelt daran, dass er einen nach dem anderen abknallen wird, wenn nicht sofort Disziplin einkehrt. Man verständigt sich darauf, Gepäck über Bord zu werfen. Sollte das nicht ausreichen, sind als nächstes die Männer dran. Sie wiegen mehr als die Frauen und die Kinder. Einfache Rechnung.
Ramins Boot erreicht das griechische Ufer im Morgengrauen. Müll und hunderte von Schwimmwesten zeugen am Strand von unendlichen Dramen, Hoffnungen und Katastrophen. Die Truppe trennt sich auf. Es geht zu Fuß weiter, von Camp zu Camp. Weitere 35 Tage bis Italien. Von einem Auffanglager ins nächste schlägt sich Ramin schließlich durch ins gelobte Land. Deutschland.
Ramins Integration verläuft zunächst wie im Bilderbuch. Er perfektioniert seine Deutschkenntnisse, bekommt eine Anstellung bei der Stadt als Dolmetscher und Betreuer für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Seine Studiengänge werden anerkannt und er verdient gutes Geld. Bald kann er seine Familie nachholen und seine Frau wird ein viertes Mal schwanger. Alles ist perfekt. Bis eines Tages das SEK die Tür eintritt, den Kindern eine Waffe vors Gesicht hält, die schwangere, schreiende Frau auf den Boden wirft und ihn in Handschellen abführt. Ramin wird von Gefängnis zu Gefängnis verschoben. Er wird isoliert, darf mit niemandem sprechen, darf keine gefährlichen Gegenstände wie Rasierer, Keramiktassen oder Gürtel bei sich tragen. Ramin ist ein Schläfer.
In der Anklageschrift steht, er gebe vor, ein angepasstes Leben in Deutschland zu führen, um nicht aufzufallen. Er sei ausgebildeter IS-Kämpfer, fanatischer Islamist und warte auf den Befehl, um per Selbstmordattentat so viele Ungläubige wie möglich in den Tod zu reißen. Ramin bestreitet das. Er habe – im Gegenteil – für die Widerstandbewegung gekämpft. Deshalb habe er ja in Syrien im Gefängnis gesessen. Ein Cousin habe bei den deutschen Ermittlungsbehörden seinen Namen angegeben, um selbst seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Das habe er der Anklage entnommen. Er zeigt mir die Stelle auf dem rosafarbenen Dokument. Ramin ist gut sortiert. Er hat alle Papiere griffbereit in mehreren Ordnern abgeheftet und weiß genau, wo er etwas findet. Kurz muss ich an das Chaos in meinen Steuerunterlagen denken.
Ramin wirkt immer ruhig, besonnen und wertschätzend. Er flucht nie, benutzt keine Schimpfwörter oder Kraftausdrücke. Ich kann ihm stundenlang zuhören. Und das tue ich auch. Meine goldene Regel „kein Gespräch über 45 Minuten“ habe ich irgendwann im Mittelmeer über Bord geworfen. Das lässt eine Alarmglocke bei mir läuten.
Auch nach Feierabend denke ich über Ramin nach. Siebzig Minuten habe ich heute mit ihm gesprochen. Und auch die letzten zwei Gespräche überschritten die übliche Dauer bei Weitem. „Er ist auch massiv traumatisiert …“, schießt meine mentale Selbstverteidigungswand hoch. „… und all deine anderen Klienten nicht? Wie oft hast du die Story mit dem Boot und dem Kleintransporter schon gehört?“ Oh. Der analytische Teil meines Gehirns wird wach. „Er ist so nett und wirkt so aufrichtig.“ – die Selbstverteidigung. „Ja genau, und wenn er ein Terrorist wäre, würde er durch die Gänge rennen, dich beleidigen und ‚Allahu Akbar‘ schreien?“ Meine Vernunft kann Sarkasmus.
Und, wie ich so auf meiner Terrasse sitze, und meinem eigenen inneren Dialog lausche, kann ich mich gar nicht dagegen wehren. Wie von selbst wird einem Teil meines Verstandes klar: Die Wahrscheinlichkeit, dass hochspezialisierte Behörden wie der BND, das BKA und das GTAZ (Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum) aus Versehen die falsche Wohnung stürmen, weil sie der billigsten Ausrede der Welt („Ich war’s nicht, mein Cousin war’s“) unreflektiert nachgehen, ist sehr gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein hochausgebildeter Terrorist, der hier in Deutschland nicht auffallen will, es schafft, die Psychologin zu manipulieren? Leider deutlich höher.
Ich habe mich manipulieren lassen, obwohl ich die exklusiven Hinweise zur Wahrheit schwarz auf weiß in der Anklageschrift vor mir liegen hatte. Ramin befindet sich in U-Haft. Es ist noch nicht bewiesen, dass er schuldig ist – und doch ist es in Stein gemeißelt.
Rational ist mir natürlich klar, worauf diese Selbstreflexion hinauslaufen muss, aber im Moment löst Ramin in mir noch immer keinerlei Misstrauen aus. Und so sitze ich seit einer Stunde auf meiner Terrasse und versuche zu verstehen, dass ich angelogen und manipuliert wurde. Versuche zu verstehen, dass sich das Böse manchmal in einem höflichen und wertschätzenden Gewand verbirgt. Niedertracht, Feindseligkeit und der Wunsch, Leid, Tod und Verderben über andere Menschen zu bringen, können in der Gestalt eines gebildeten Menschen erscheinen – mit intaktem Wertesystem und hohen moralischen Ansprüchen. In der Gestalt eines Menschen, dem ich an den Lippen hänge und dessen Geschichten über Folter, schmerzvolle Trennungen, Rückschläge und Kampfgeist ich wie gebannt lausche. Geschichten, die so möglicherweise nie stattgefunden haben.
Bildquelle: Miguel Lindo, Unsplash