KOMMENTAR | Hochverarbeitete Lebensmittel, die lange haltbar sind und gut schmecken – zu gut, um wahr zu sein? Kritikern zufolge gehören sie in die Tonne. Warum das falsch ist.
Speisen jenseits von Pellkartoffeln und Knabbergemüse benötigen gerne auch mal etwas mehr Zutaten und Zubereitungsschritte. Was beim Kochen am heimischen Herd in der Regel als Zeichen gehobener Esskultur gilt, ist in bereits zubereiteten Gerichten aus dem Supermarktregal verpönt. Die gelten nämlich als hochverarbeitet, was einem verbreiteten Narrativ zufolge gleichzusetzen ist mit künstlich, industriell und schlecht für die Gesundheit.
Rein und natürlich sollen die Produkte sein – hauptsache, man rührt sie erst zu Hause zusammen. Am Begriff „hochverarbeitete Lebensmittel“ scheiden sich die Geister. Die einen verteufeln grundsätzlich alles, was von den Fließbändern der Lebensmittelindustrie flutscht. Die Allianz reicht von Carlos Monteiro, dem brasilianischen Erfinder der NOVA-Klassifikation rein nach Verarbeitungsgrad bis hin zu mediengängigen Ernährungs-Gurus, die mit ihren Klageschriften über die geldgeile Nahrungsmittelindustrie vermutlich ansehnliche Vermögen scheffeln.
Die anderen betonen, dass weder Prozessierungsgrad noch Zutatenmenge entscheidend sind, sondern die Art und Qualität der Zutaten selbst. Das liegt ja eigentlich auch auf der Hand: So sind ein paar Löffel pures Schweinfett und eine Hand voll Bittermandeln zwar rein und natürlich, aber bestimmt nicht bekömmlich, vom Knollenblätterpilz oder anderen Giften ganz zu schweigen. Vollkornbrot dagegen ist hochgelobt – und hochverarbeitet.
Zu den Kritikern des Begriffs „hochverarbeitete Lebensmittel“ oder „ultraprocessed food“ (UPF) gehören etwa Hannelore Daniel, ehemalige Professorin für Ernährungsphysiologie an der TU München und Thomas Henle, Professor für Lebensmittelchemie an der TU Dresden. Sie haben kürzlich in einem offenen Brief Dampf abgelassen: Die NOVA-Klassifikation sei ein „wissenschaftlich völlig unfundiertes Bewertungssystem“, weshalb sie in den Ernährungstipps der Fachgesellschaften auch keine Rolle spiele.
Ihrer Ansicht nach ging es Monteiro primär um Industriekritik und weniger um die wirklichen Gesundheitsrisiken. Sie schreiben: „Tatsächlich sehen wir hier Tendenzen einer Ideologisierung im Bereich der Lebensmittel- und Ernährungswissenschaften, verbunden mit konkreten Anzeichen der Wissenschaftsleugnung.“ Daniel und Henle beklagen auch, dass der Begriff „hochverarbeitete Lebensmittel“ unkritisch in wissenschaftlichen Studien verwendet wird, obwohl die jeweiligen Autoren wüssten, wie wenig aussagekräftig er ist.
Da bestimmte hochverarbeitete Lebensmittel, wie etwa Wurstwaren, Chips und Snacks, tatsächlich übermäßig fettig, salzig und süß sind, und Menschen mit hohem Konsum solcher Speisen auch sonst eher ungesund leben, finden viele Untersuchungen einen Zusammenhang zwischen hohem Konsum und diversen Gebrechen. Jüngstes Beispiel ist eine im August in Nature Medicine veröffentlichte Studie aus England, in der 55 übergewichtige bis adipöse Probanden je acht Wochen lang nacheinander mit zwei verschiedenen Diäten gefüttert wurden, wobei sie so viel essen durften, wie sie wollten.
Die eine Diät mit gering verarbeiteten Lebensmitteln enthielt eher frisch und einfach zubereitete Speisen, die andere Diät mit hochverarbeiten Lebensmitteln enthielt eher industriell gefertigte, abgepackte Speisen wie Müsli-Riegel, Fertiggerichte und Nahrungsersatzdrinks. Gemessen am Energiegehalt steckten in den „hochverarbeiteten Lebensmitteln“ etwa 10 % weniger Fett, dafür je 20 % mehr Zucker und Salz.
Ergebnis: Die Probanden nahmen in der Phase mit den abgepackten Lebensmitteln im Schnitt rund 1 Kilogramm ab, in der Phase mit den eher frischen Lebensmitteln rund 2 Kilogramm. Damit bestätigt die Studie bereits Bekanntes: Menschen essen mehr, wenn sie weniger kauen müssen, wenn sie später satt werden und wenn es lecker ist. Da solche Ergebnisse immer wieder ein breites Medienecho finden, sind die Vorbehalte bei den Konsumenten entsprechend groß: Rund zwei Drittel der europäischen Bevölkerung glauben, dass hochverarbeitete Lebensmittel ihrer Gesundheit schaden.
Besonders schlecht beleumundet sind Fleischersatzprodukte. Selbst aufgeklärte Zeitgenossen sehen Schnitzel und Mortadella aus Erbsen, Weizen und Soja oft skeptisch. Ihnen ist zwar bewusst, wie viel Schaden Tierhaltung und -konsum in vieler Hinsicht anrichten, doch weil die Ersatzprodukte „hochprozessierte Lebensmittel“ sind, hält man sich doch beim Kauf zurück – und bleibt bei Kotelett und Krakauer.
Dabei ist zum Beispiel auf der Webseite des Bundeszentrums für Ernährung zu lesen, dass die NOVA-Klassifikation „zunehmend in der Kritik“ steht, weil sie nicht nach Inhalts- oder Nährstoffen unterscheidet. Zu Fleischalternativen heißt es: „Diese können trotz des hohen Verarbeitungsgrades und der oft notwendigen Zusatzstoffe ernährungsphysiologisch wertvoll sein. Fachleute befürworten die Produkte außerdem, weil sie den Einstieg in eine pflanzenbetonte Ernährung erleichtern.“ Pikantes Detail am Rande: Weil viele Menschen gar nicht so recht wissen, was hochverarbeitete Lebensmittel eigentlich sind, schütten sie schon mal das Kind mit dem Bade aus – aufgrund einer Übersensibilität meiden sie auch reine, klassische Fleischersatzprodukte wie Tempeh und Tofu.
Ein Faktenpapier der Non-Profit-Organisation Good Food Institut geht in die Offensive, indem es den Nutzen der industriellen Fertigung unterstreicht: „Bei der Herstellung von pflanzenbasiertem Fleisch können wichtige Nährstoffe zugesetzt und andere für den Körper leichter verwertbar gemacht werden.“ Hier sind zu nennen: Vitamin B12, Eisen, langkettige Omega-3-Fettsäuren, Zink und Jod. Und das Good Food Institute bedauert: „Der zunehmende Fokus auf kurze Zutatenlisten berücksichtigt oft den gesundheitlichen Nutzen mancher Zusatzstoffe nicht.“
Zudem vermeidet man mit pflanzlichen Produkten die Gesundheitsgefahren, die mit tierischem Fleisch verbunden sind. Allein in der EU infizieren sich jedes Jahr mehr als 350.000 Menschen über das tierische Essen mit Bakterien wie Campylobacter und Salmonellen. Auch belastet der Pflanzenanbau, selbst wenn die geernteten Produkte dann noch verarbeitet werden, Klima und Umwelt weit weniger stark als die Tierhaltung. Das Leid der Tiere ist noch mal ein ganz eigenes Kapitel.
Ein im Juli dieses Jahres veröffentlichtes, knapp 400 Seiten starkes Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz beim Bundesministerium für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat hat speziell Fleischalternativen unter die Lupe genommen. Das Gutachten kommt zu dem Schluss, dass Alternativprodukte dazu beitragen können, dass Menschen weniger Fleisch essen und so chronische Krankheiten vermieden werden.
Statt hochverarbeitete Lebensmittel pauschal zu meiden, wie es Monteiro und seine Jünger fordern, propagiert das Gutachten die 3-R-Strategie: Sie „zielt darauf ab, den Konsum tierischer Produkte durch kleinere Portionsgrößen zu verringern („Reduce“), tierische Produkte mit pflanzlichen oder alternativen Zutaten zu kombinieren („Remix“) und/oder tierische Produkte in Mahlzeiten vollständig durch Alternativen zu ersetzen („Replace“)“.
Aber was ist mit der Tiefkühlpizza, dem Sinnbild diabolischer Verführungskünste der Lebensmittelindustrie? Matthias Hanigk, in der Kommunikationsabteilung von Dr. Oetker zuständig für Pizza, freut sich erst einmal, dass man ihre Sicht „auf die viel diskutierte Thematik“ einbeziehen möchte. Die NOVA-Klassifikation sieht Hanigk naturgemäß kritisch, weil sie „relevante Aspekte völlig außer Acht lässt“, als da wären die ernährungsphysiologische Qualität von Lebensmitteln, die Wirkung der Verarbeitungsverfahren auf die enthaltenen Rohstoffe und die Art der Zusatzstoffe oder Aromen. Aber ist eine Dr. Oetker-Pizza tatsächlich gesund? Entscheidend dafür sei die Auflage, sagt Harnigk, und die können die Konsumenten frei wählen. Der aufgedruckte Nutri-Score unterstützt sie dabei.
Was den viel kritisierten Salzgehalt angeht, braucht die Tiefkühlpizza den Vergleich mit der selbst gemachten oder der beim Italiener nicht zu scheuen. Salz wurde in den vergangenen 20 Jahren schrittweise von 1,59 Gramm pro 100 Gramm Pizza auf 1,06 Gramm reduziert. Marktforschungen hätten ergeben, dass eine noch deutlichere Reduzierung dazu führen würde, dass die Verbraucher dann eben zu Hause nachsalzen. Ein Vorteil der industriellen Herstellung: Auch wenn die Arbeiter noch so verliebt sind, rutscht ihnen die Hand beim Salzen definitiv nicht aus, denn der Salzgehalt wird maschinell exakt kontrolliert.
Laufende Qualitätskontrollen stellen sicher, dass keine Verunreinigungen von Mensch oder Maschine in den Prozess gelangen. Dass die Pizzen länger haltbar sind, geht nicht zulasten ihrer Nahrhaftigkeit: Die Schockfrostung erhält Nährstoffe und Vitamine. „Der Zusatz von Konservierungsmitteln ist nicht erforderlich“, sagt Harnigk. Ansonsten enthält die Pizza aus der Fabrik Wasser, Mehl, Hefe, Pflanzenöl, Salz und etwas Zucker – wie jede andere Pizza auch. Dass die Pizzen industriell hergestellt werden, macht weitere Zutaten „nicht zwingend erforderlich“.
Obwohl die eingesetzten Zusatzstoffe „keine negativen Auswirkungen auf die ernährungsphysiologische Qualität unserer Pizzen haben“, wie Harnigk versichert, versucht Dr. Oetker sie zu reduzieren und grundsätzlich nur so viel davon einzusetzen, wie unbedingt nötig ist. Aber warum eigentlich, wenn sie doch unschädlich sind? Ganz einfach: „Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wünschen sich kürzere Zutatenlisten.“
Bildquelle: Gary Chan, Unsplash