Im Kampf gegen die Sucht ist das Gift im Glas nicht der einzige Gegner – oft sind Unverständnis und soziale Ächtung viel schlimmer zu ertragen. Warum Empathie hilfreicher ist als Verurteilung.
Manchmal beginnen Einsätze wie ein Stoßseufzer. Kaum war der Funk ruhig, lag wieder diese bleierne Müdigkeit über uns, als hätte der Tag schon alles gegeben, was er an Elend in den Taschen trug. „Es geht in die Martinstraße 7, erster Stock, bei Wero: Alkohol. Ich schick’s euch auf die Dat-Box.“ Der Leitstellendisponent klang so, als ginge es um eine vergessene Zeitung im Wartezimmer und nicht um ein Leben, das ins Trudeln geraten war. Im Treppenhaus empfängt uns der Nachbar. Die Stirn in Falten, aber erleichtert, endlich jemandem die Verantwortung übergeben zu können. „Sie ist im Schlafzimmer“, sagt er. Er hält inne, atmet hörbar aus und schüttelt den Kopf. Dann öffnet er die Tür zu einer Wohnung, die nach Lavendel riecht und einer Traurigkeit, die nicht auslüften wollte.
Wir finden sie in ihrem Bett: Charlotte, vielleicht Ende zwanzig, mit verweintem Blick, der mehr Müdigkeit als Verzweiflung beinhaltet. Ihre Bewegungen wie in Zeitlupe, als würde sie ständig fürchten, durch eine falsche Geste endgültig zu zerbrechen. Der Raum riecht nach kaltem Rauch und Alkohol, aber auch nach etwas anderem – einer Art Aufgeben, das in den Stoff der Möbel gesickert war.
In dieser Wohnung sehen wir nichts von dem Chaos, das man bei Trinkern erwartet. Kein Müll, nur ein paar leere Flaschen, aber auch kein olfaktorischer Amoklauf. Stattdessen ein unaufdringlicher Ordnungssinn als stille Würde. Bücher, fein gestapelt. Auf der Anrichte: Fotos, die ein anderes Leben zeigen. Eine Charlotte als Abiturientin, vor dem Spiegel mit glänzenden Haaren und einem Lächeln, das nicht nur auf den Mund gemalt war. Am Strand mit ihrer Mutter, im Winter vor dem Weihnachtsbaum mit einem Mann, der sie so ansah, als wäre sie die letzte Unversehrtheit auf Erden. Ich setze mich zu ihr. „Sie sind … nett“, flüstert Charlotte. Ein Satz, klein wie ein Insekt, aber schwer wie Blei. Ich antworte mit einem Lächeln, das keine Fassade ist.
Ihre Geschichte kommt brüchig. „Ich wollte es heute allein schaffen. Den kalten Entzug. Hab alles weggekippt, die Flaschen, die Reste … aber ich hab’s nicht geschafft.“ Ihre Stimme kratzt am Rand der Verzweiflung. „Dann kam das Zittern. Die Angst. Ich habe nur noch gehofft, dass ich nicht sterbe.“
Sie wollte sich dem Gift mit Gewalt entreißen. Ihr Körper hat mit Angst rebelliert. Kalter Schweiß, Herzrasen, jede Sekunde wie ein Jahr. „Ich habe beim Nachbarn geklingelt. Ich hatte solche Angst.“ Ihre Augen schwimmen, nicht im Alkohol, sondern in Scham. Sie trank die halbe Flasche Wein auf ex. „Entschuldigung“, sagte sie, „es geht nicht ohne.“
Man lernt im Rettungsdienst irgendwann, sich selbst an der Türschwelle abzustreifen. Kein Urteil, keine Sätze, die wie Steine im Magen liegen. Ich weiß weder, welche Dämonen sie verfolgen, noch was sie an den Punkt getrieben hat, an dem der Wein zu einer Rüstung und einem Schwert gleichermaßen wurde. Aber ich weiß: Niemand entscheidet sich freiwillig für den freien Fall. Ich gestehe, dass ich früher nicht besser war als die anderen. Auch ich habe abfällig über Alkoholiker gedacht, sie belächelt und innerlich verurteilt, als wären sie aus einem minderwertigen Material gegossen. Ich war jung, wütend, hungrig nach Klarheit in einer Welt, die keine bietet. Es fiel mir leicht, mich zu ärgern, wenn der nächste Alkoholkonsument die Notaufnahme blockierte, der Geruch von Schnaps wie ein Angriff auf meine Moral, auf meinen Optimismus. Ich habe mit den Augen gerollt, schlecht über Menschen gedacht, die ich gar nicht kannte. Erst die Jahre haben mich Demut gelehrt. Vielleicht braucht es eigene Niederlagen, eigene Verluste und eigene dunkle Abende, um den Abgrund im Anderen zu erkennen und zu verstehen, dass kein Mensch sich freiwillig aufgibt.
Im Rettungswagen klammert sich Charlotte an ihre Tasche, als würde dort ihr letzter Rest Würde wohnen. „Sie sind der erste, der mich nicht wie Müll behandelt.“ Ihre Stimme ist ein Faden, fast schon gerissen, doch noch nicht ganz verloren. Sie erzählte mir, dass dies ihr x-ter Versuch sei, zu entziehen. Dann landete sie wieder in der Klinik, von der man sie wieder in die Hölle nach Hause schickte. Sie war zwar betrunken, ja – aber sie war auch klar genug, um zu sagen: „Ich will nicht mehr.“ Sie war auch dankbar. Nicht, weil ich ihr helfen konnte, sondern weil ich sie angesehen hatte, ohne durch sie hindurchzusehen. Weil ich nicht fragte: „Wie viel haben Sie getrunken?“, sondern: „Wie lange halten Sie das schon durch?“ Weil ich ihre Hand nicht als medizinische Maßnahme nahm, sondern als menschliche Geste.
Wir erreichen das Krankenhaus. Neonlicht, das nichts verschweigt; auf dem Flur Menschen in Kasacks und Kitteln, die Augen gerötet vom Dienstmarathon. Manche blicken kurz auf, andere gar nicht. Einer fragt nach der Krankenkassenkarte, seine Kollegin schiebt die Liege in den Nebenraum und sagt nichts. Keine offenen Beleidigungen, keine groben Gesten – und doch eine unsichtbare Distanz, die schwerer wiegt als jedes Wort. Für Charlotte reicht schon dieses Abwenden, dieses Tempo, das ihr die Dringlichkeit abspricht. Im Behandlungszimmer fragt eine Ärztin, ob Charlotte das wirklich will, den Entzug jetzt und heute. Ob sie sicher ist und das schaffen kann. Jeder Satz ist ein Fragezeichen, das mehr an ihrer Glaubwürdigkeit als an ihrer Not zweifelt.
Charlotte nickt, weil sie keine andere Wahl hat. Ich beobachte, wie sie die Augen schließt. Vielleicht sucht sie das Mädchen auf dem Foto als jene frühe Ausgabe ihrer selbst, die noch glaubte, das Leben sei ein Versprechen. Damals, als Lachen selbstverständlich war und nicht eine Erinnerung, die man wie einen verblassten Fetzen Papier mit sich herumträgt. Ich halte ihren Blick einen Moment länger fest, als wäre darin noch ein Rest des Mädchens von damals. Dann lasse ich los – wissend, dass mein Weg hinausführt und ihrer erst beginnt.
Der Einsatz endet so abrupt, wie er begonnen hat. Mein Kollege und ich fahren durch die schlafende Stadt, das Blaulicht als flüchtiges Versprechen von Rettung. In meiner Nase hängt noch der Lavendel, Erinnerung an einen Ort, der einmal ihr Zuhause war und jetzt nur noch Durchgangsstation. Ich spüre, wie schwer es ist, Menschlichkeit nicht zu verlieren zwischen Protokoll und Müdigkeit, zwischen all den kleinen Kapitulationen des Alltags. Ich denke an Charlotte und daran, dass kein Leben an einem Tag zerbricht. Daran, dass früher auch ich lieber gewertet als gewartet, lieber verurteilt als verstanden habe. Ich denke an all diejenigen, die noch kämpfen, während wir längst weitergegangen sind.
Am Ende bleibt mir Charlottes Wohnung im Kopf: Bilder wie Fragmente eines verlorenen Lebens, die Ordnung, das aufgeschüttelte Kissen – alles kleine Rettungsinseln gegen den Sturm. Niemand ist nur das, was gerade von ihm übrig ist. Und wenn ich Charlotte eines geben konnte, dann war es die Gewissheit, dass auch sie noch zählt.
Würde ist kein Luxus. Sie ist das letzte Stück Land – und das sollten wir nicht dem Meer überlassen.
Bildquelle: Saurav Sahu, Unsplash