Wenn das Immunsystem Amok läuft, hilft nur noch entschiedenes Gegensteuern. Überlebt der Patient, trägt er oft schwere Schäden an Leib und Seele davon. Eine neue Leitlinie gibt Rat.
Die Zahlen könnten aus dem Drehbuch eines Endzeitthrillers stammen: Jährlich bekommen allein in deutschen Kliniken 91.000 Patienten eine Sepsis oder einen septischen Schock. Im Schnitt wird drei Wochen lang um das Leben der Patienten gerungen – trotzdem sterben mit Sepsis gut ein Drittel und mit einem septischen Schock mehr als die Hälfte. Weil die Bevölkerung immer älter und die Hochleistungsmedizin immer ausgefeilter wird, dürften die Zahlen noch steigen.
Unter Federführung der Deutschen Sepsis-Gesellschaft fasst die S3-Leitlinie „Sepsis – Prävention, Diagnose, Therapie und Nachsorge“ das aktuelle Wissen zusammen. Sie ist vernetzt mit einer internationalen Sepsis-Leitlinie sowie anderen deutschen Leitlinien. Sepsis geht alle medizinischen Fachdisziplinen an, insofern dürfte diese Aktualisierung der Leitlinie allgemein höchst willkommen sein.
Laut Definition ist eine Sepsis „eine akut lebensbedrohliche Organdysfunktion, hervorgerufen durch eine inadäquate Wirtsantwort auf eine Infektion“. Betroffen sind vor allem Nieren, Lunge, Gehirn, Leber und die Blutgerinnung. Die überschießende Immunantwort wird ausgelöst durch Bakterien, aber auch durch Viren, Pilze oder Parasiten.
Um die Erreger zu bekämpfen, das Immunsystem zu dimmen und die Organschäden zu begrenzen, muss eine Therapie entsprechend breit angelegt sein – und sollte schnell beginnen: Bei einem septischem Schock (Blutdruck unter 65 mmHg, Laktatwert über 2 mmol/l) sollten Antiinfektiva am besten innerhalb einer Stunde als Infusion verabreicht werden, bei einem Sepsis-Verdacht innerhalb von drei Stunden. Doch trotz der Eile rät die Leitlinie zu Augenmaß: Nicht angezeigt sind Antimykotika bei niedrigem Risiko für eine Pilzinfektion, veno-arterielle ECMO ohne zusätzlichen kardiogenen Schock, routinemäßigen Rekrutierungsmanöver, Blutreinigung und hochdosiertes Vitamin C.
Die aktualisierte Version der Leitlinie rückt die „Sepsis-Überlebenden“ mehr in den Fokus. Denn eine längere intensivmedizinische Behandlung hinterlässt Spuren, sodass Patienten „in der Regel mit einem langen und komplizierten Genesungsprozess konfrontiert“ sind. Der Begriff dafür lautet „Post-Intensive Care Syndrom“ (PICS). Beschwerden reichen von Delir mit Störungen von Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Denken, Gedächtnis, Psychomotorik, Emotionalität und Schlaf-Wach-Rhythmus, über kognitive Dysfunktionen im Rang von leichtem Alzheimer bis hin zu einer häufigen neuromuskulären Schwäche, die sich zum Beispiel in Schluckstörungen äußert.
Weil Angehörige häufig die oft gravierenden Langzeitfolgen bei Sepsis-Überlebenden unterschätzen, sollten Behandlungsziele möglichst innerhalb von drei Tagen mit Patienten und Angehörigen besprochen und festgelegt werden. Gute Kommunikation mit den Angehörigen kann deren Zufriedenheit erhöhen sowie Stress, Ängste und Depression abbauen/vorbeugen.
Die Autoren stellen hier eine erfreuliche Entwicklung fest: „Die Palliativversorgung wird zunehmend als wesentlicher Bestandteil einer umfassenden Versorgung von kritisch kranken Patienten anerkannt, und zwar unabhängig von der Diagnose oder der Prognose.“ Werden Palliativmediziner auf der Intensivstation eingebunden, können Faktoren wie Schmerzen, Ängste, Wünsche, Glaubensgrundsätze und Werte besser berücksichtigt werden. Palliativmedizinische Ansätze fördern zudem die Bereitschaft zur Sterbebegleitung durch Angehörige.
Soll ein Patient aus dem Akutkrankenhaus in eine andere Einrichtung verlegt werden, kann ein Entlassmanagement unter Berücksichtigung palliativer Aspekte – scheinbar paradoxerweise – sogar dazu beitragen, dass Patienten länger überleben, wie die IMPACTS-Studie zeigte. Und was kann eine Klinik tun, um Sepsis zu vermeiden? Eine einfache Maßnahme wäre, das Personal jährlich gegen Influenza und COVID-19 zu impfen.
Die Leitlinie haben wir euch hier und im Text verlinkt.Bildquelle: Alex Shuper, Unsplash