Übergewicht gilt als Risikofaktor – ältere Patienten mit etwas mehr auf der Waage haben nach großen Operationen aber bessere Überlebenschancen als Normalgewichtige. Bekommt die Adipositas zu Unrecht ihr Fett weg?
Adipositas ist ein Risikofaktor für Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine verkürzte Lebenserwartung. Vor planbaren Operationen empfehlen viele Ärzte ihren Patienten, Gewicht zu reduzieren. Eine Kohortenstudie der University of California in Los Angeles stellt diese Strategie infrage. Nach schweren, planbaren Eingriffen ist die Sterblichkeit bei leicht Übergewichtigen niedriger als bei Normal- oder Untergewichtigen.
Die Forscher haben Daten von 414 Patienten ab 65 Jahren retrospektiv ausgewertet. Alle Personen mussten sich zwischen 2019 und 2022 einer größeren elektiven Operation unterziehen. In der gesamten Kohorte lag die 30-Tage-Mortalitätsrate bei 11 %.
Die Gruppe mit Übergewicht (BMI 25 bis 29,9) hatte die niedrigste 30-Tage-Mortalität (0,8 %) – deutlich geringer als Patienten mit Normalgewicht (18,8 %) oder Untergewicht (75 %). Selbst nach einem Jahr zeigten sich noch Überlebensvorteile bei höherem BMI. Besonders auffällig: In der Untergruppe mit unterem Normalgewicht (BMI 18,5 bis 22,5) traten fast alle Todesfälle auf.
Ihre Ergebnisse interpretieren die Autoren als möglichen Schutzeffekt eines höheren BMI im Alter. Sie stellen infrage, ob klassische BMI-Kategorien für ältere Menschen überhaupt sinnvoll sind, um Mortalitätsrisiken zu bewerten.
Mit ihrer Arbeit legen die Autoren ihre Finger in eine wissenschaftliche Wunde, denn das Phänomen ist nicht neu. Seit den frühen 2000er-Jahren beschreiben Studien ein „Adipositas-Paradoxon“: Menschen mit Übergewicht oder milder Adipositas haben in bestimmten Situationen bessere Überlebensraten als Normalgewichtige. Beschrieben wurde dies unter anderem bei chronischer Herzinsuffizienz, Niereninsuffizienz im Endstadium, Sepsis oder nach kardiovaskulären Eingriffen. Auch in geriatrischen Populationen finden sich immer wieder Hinweise, dass ein leicht erhöhter BMI mit einer besseren Prognose einhergeht.
Eine Metaanalyse der Global BMI Mortality Collaboration mit Daten von fast vier Millionen Menschen zeigte zwar, dass Normalgewicht (BMI 20 bis 25) insgesamt mit der niedrigsten Mortalität assoziiert ist. Doch Subanalysen legen nahe: In höherem Alter verschiebt sich die optimale BMI-Spanne nach oben. Personen ab 70 profitieren häufig von einem BMI zwischen 25 und 30.
Wie kann das sein? Die Hypothesen reichen von größeren metabolischen Reserven bis hin zu mehr Muskelmasse. Gerade in Phasen akuten Stresses, etwa nach einer großen Operation, könne das lebensrettend sein, schreiben die Autoren der aktuellen Arbeit.
Welche Hinweise gibt es noch zum Adipositas-Paradoxon? Eine systematische Übersichtsarbeit hat die bisherige Studienlage zusammengetragen. Bei einem Drittel aller 58 eingeschlossenen Studien fanden Wissenschaftler keinerlei Hinweise auf dieses Phänomen, insbesondere, wenn die untersuchten Personen keine spezifische Vorerkrankung hatten. Dagegen zeigten die meisten Untersuchungen, die sich mit kurzzeitiger Sterblichkeit befassten, einen klaren Überlebensvorteil für Übergewichtige. Auch bei Langzeitbeobachtungen deutete etwa die Hälfte der Studien auf das Paradox hin. Besonders deutlich war der Effekt bei Studien mit älteren Patienten mit akuten Erkrankungen oder chronischen Begleiterkrankungen. 18 von 24 Studien zeigen Belege für einen positiven Effekt von Übergewicht.
Doch ein genauerer Blick auf die Studiendesigns offenbart zahlreiche methodische Fallstricke, die Ergebnisse verzerren können. Kritisch ist ein mögliches Confounding durch Krankheiten wie Krebs. Normalgewichtige Patienten schneiden in manchen Analysen schlechter ab, weil eine bisher unerkannt gebliebene Erkrankung bereits zu ungewolltem Gewichtsverlust geführt hat. Der vermeintlich „günstige“ BMI überdeckt hier schlicht den Einfluss einer Krankheit. Hinzu kommt, dass der Body-Mass-Index nur ein sehr grober Marker ist. Er unterscheidet nicht zwischen Muskel- und Fettmasse und sagt auch nichts über die Verteilung des Körperfetts aus. Aussagekräftiger wäre der Körperfettanteil (Body Fat Percentage (BF %)), wie Studien nahelegen.
Eine große Analyse zu Patienten mit Herzinsuffizienz und reduzierter Auswurffraktion untersuchte, wie sich verschiedene Maße auf Prognosen auswirken. Zunächst zeigte sich ein „Obesity-Survival-Paradox“: Personen mit BMI-Werten über 25 hatten scheinbar ein geringeres Sterberisiko. Dieser Vorteil verschwand jedoch, sobald Forscher andere Einflussfaktoren wie Biomarker berücksichtigt haben. Auch der Selektionsbias spielt eine Rolle. Viele Untersuchungen betrachten spezielle Patientengruppen, etwa kardiologische oder hospitalisierte Menschen. Die Ergebnisse lassen sich nicht einfach auf die Allgemeinbevölkerung übertragen.
Alles in allem zeigt sich: Ob Übergewicht im Einzelfall tatsächlich Vorteile bringt, lässt sich nicht ohne Weiteres sagen. Es braucht differenziertere Studiendesigns, bessere Marker als den BMI und eine vorsichtige Interpretation der Daten.
Für die präoperative Praxis stellt sich jetzt die Frage, ob ältere Patienten mit Übergewicht abnehmen sollten. Die Studie aus Los Angeles spricht klar dagegen – zumindest, was kurzfristige Überlebenschancen betrifft. Andererseits zeigte sich, dass Menschen mit extremer Adipositas (BMI über 40) deutlich mehr Komplikationen hatten, insbesondere pulmonale Probleme und Thrombosen.
Untergewicht im Alter war nachteilig, extremes Übergewicht erhöhte die Komplikationsrate – während leichtes Übergewicht einen gewissen Schutz bieten könnte. Bekannte Empfehlungen zur Gewichtsreduktion gelten womöglich nicht uneingeschränkt für Hochbetagte vor großen Eingriffen.
Studie zum Adipositas-Paradoxon bei älteren Menschen
Quellen:
Canales et al.: Body Mass Index and Postsurgical Outcomes in Older Adults. JAMA Netw Open, 2025. doi: 10.1001/jamanetworkopen.2025.28875.
Global BMI Mortality Collaboration et al.: Body‑mass index and all‑cause mortality: individual‑participant‑data meta‑analysis of 239 prospective studies in four continents. Lancet, 2016.doi: 10.1016/S0140‑6736(16)30175‑1.
Dramé, M.; Godaert, L. et al.: The Obesity Paradox and Mortality in Older Adults: A Systematic Review. Nutrients, 2023. doi: 10.3390/nu15071780.
Lennon et al.: The Obesity Paradox in Cancer: a Review. Curr Oncol Rep, 2016. doi: 10.1007/s11912‑016‑0539‑4.
Butt et al.: Anthropometric measures and adverse outcomes in heart failure with reduced ejection fraction: revisiting the obesity paradox. Eur Heart J, 2023. doi: 10.1093/eurheartj/ehad083.
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