Montagmorgen in der Straßenbahn, der Hintermann niest geräuschvoll – da kommt Ekel auf. Doch im Körper passiert noch viel mehr: Im Gehirn läuten die Alarmglocken. Was dann folgt, erfahrt ihr hier.
Lange galt das Immunsystem als isolierter Wächter, der nur bei direktem Kontakt mit Pathogenen aktiv wird. Doch aktuelle Erkenntnisse legen nahe, dass das Gehirn bereits auf bloße Hinweise auf Krankheit in der Umgebung reagiert und damit das Immunsystem in Alarmbereitschaft versetzt. Eine kürzlich in Nature Neuroscience veröffentlichte Studie zeigt: Schon das Betreten der persönlichen Schutzsphäre durch virtuell krank wirkende Avatare kann messbare Immunreaktionen auslösen.
Das zentrale Konzept der Studie ist das sogenannte peripersonale Raum-System (Peripersonal Space, PPS), das multisensorische Reize in der Nähe des Körpers verarbeitet und mit Schutzmechanismen verknüpft ist. In einem experimentellen Setup wurden gesunde Probanden in einer Virtual-Reality-Umgebung mit Avataren konfrontiert, die entweder gesund, verängstigt oder sichtbar krank wirkten. Die Annäherung kranker Avatare aktivierte nicht nur frontoparietale PPS-Areale und das Salienznetzwerk, sondern beeinflusste auch die Funktion von angeborenen lymphoiden Zellen (ILCs), einer frühen Instanz des Immunsystems.
Interessanterweise war die Immunantwort bei den virtuell Infizierten vergleichbar mit jener nach einer Grippeimpfung. Die Forscher konnten zeigen, dass sowohl die Häufigkeit als auch der Aktivierungszustand von ILCs signifikant verändert waren, insbesondere bei ILC1- und ILC2-Subtypen. Die Immunmodulation korrelierte mit einer veränderten funktionellen Konnektivität zwischen PPS-Arealen, dem Hypothalamus und neuroendokrinen Achsen wie der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse (HPA-Achse). Zusätzlich wurden spezifische Hormon- und Eicosanoidprofile im Serum detektiert, die das neuroimmunologische Zusammenspiel weiter stützen.
Der in der Studie beobachtete Effekt geht über den klassischen Begriff des Verhaltensimmunsystems (Behavioral Immune System, BIS) hinaus. Unter dem BIS versteht man evolutionär geprägte Verhaltensstrategien wie Vermeidung oder sozialer Rückzug als Reaktion auf Ekel. So werden potenzielle Infektionsquellen gemieden, bevor es zum Kontakt mit einem Pathogen kommt. Während bislang vor allem das Verhalten als Reaktionsträger im Fokus stand, zeigt die aktuelle Arbeit, dass das biologische Immunsystem ebenfalls Teil dieses antizipatorischen Netzwerks ist.
Erstmals konnte nun nachgewiesen werden, dass immunologische Prozesse nicht nur durch tatsächliche Pathogenkontakte ausgelöst werden, sondern bereits durch das Wahrnehmen krankheitsassoziierter Reize im Umfeld. In der Studie wurde dies durch virtuell infizierte Avatare simuliert. Entscheidend dabei ist: Die beobachteten Immunreaktionen, darunter Veränderungen in der Frequenz und Aktivierung von angeborenen lymphoiden Zellen, traten ohne jegliche physische Exposition gegenüber einem Erreger auf.
Diese Erkenntnisse liefern neue Impulse für die Psychoneuroimmunologie, die sich mit der bidirektionalen Kommunikation zwischen Nervensystem und Immunsystem befasst. Offenbar ist das Gehirn nicht nur in der Lage, potenziell infektiöse Signale aus der Umwelt präzise zu detektieren, sondern kann diese Information über spezifische neuroendokrine Pfade wie etwa die HPA-Achse in immunologische Aktivierung übersetzen. Damit rückt eine neue Dimension adaptiver Körperabwehr in den Vordergrund: Die Möglichkeit, Immunantworten proaktiv zu mobilisieren, noch bevor eine Infektion biologisch initiiert wurde.
Evolutionär betrachtet könnte dies ein entscheidender Vorteil sein, um im Falle tatsächlicher Exposition rascher und effizienter auf Krankheitserreger zu reagieren. In Anbetracht zunehmender globaler Mobilität und hoher Infektionsdichte in urbanen Räumen ist das Verständnis solcher antizipatorischer Immunmechanismen auch aus Public-Health-Sicht von wachsender Bedeutung.
Nicht zuletzt verdeutlicht die Studie auch das Potenzial immersiver VR-Umgebungen für die Erforschung neuroimmunologischer Prozesse. Inwieweit diese Mechanismen im Alltag – etwa bei Husten in der U-Bahn – ebenfalls greifen, bleibt offen, bietet aber eine spannende Perspektive für zukünftige Forschung.
Bildquelle: Natalie Blauth, Unsplash