Wirkt wie ein harmloser Phyto-Trend, ist in Wirklichkeit aber eine Opioid-ähnliche Droge: Kratom. Die FDA will nun ein Derivat als Betäubungsmittel einstufen. Ist das gerechtfertigt und wie ist die Situation in Deutschland?
Das Trendgewächs Kratom aus Südostasien macht nicht nur in der Selbstmedikation von sich reden: Zwischen Euphorie, Entzugshilfe und echten Risiken rückt nun das Kratom-Derivat 7-Hydroxymitragynin ins Visier der US-Behörden. Die FDA will es unter Opioid-Kontrolle stellen – höchste Zeit, genauer hinzusehen, was Kratom eigentlich kann, wo die Gefahren lauern und warum der Boom auch hierzulande an Fahrt aufnimmt.
Die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) hat Ende Juli 2025 angekündigt, das Kratom-Derivat 7-Hydroxymitragynin (7-OH) dem Controlled Substances Act (CSA) zu unterstellen – einer Klassifizierung, die in etwa dem Betäubungsmittelstatus nach deutschem Recht entspricht. Dies betrifft insbesondere Produkte wie E-Zigaretten, Fruchtgummis oder Getränke, die synthetisch mit 7-OH angereichert wurden. Ziel der FDA ist es, potenzielle Gesundheitsrisiken einzudämmen und eine neue Welle der Opioid-Epidemie zu verhindern. Naturbelassene Kratom-Blätter sind von dieser Maßnahme derzeit nicht direkt betroffen – stehen aber erneut im Zentrum einer internationalen Diskussion über Sicherheit, Wirkung und Missbrauchspotenzial.
Kratom (Mitragyna speciosa) ist ein tropischer Baum aus der Familie der Rötegewächse (Rubiaceae), der hauptsächlich in Südostasien – vor allem in Thailand, Malaysia und Indonesien – heimisch ist. In der traditionellen Medizin der Region werden die Blätter des Kratom-Baums seit Jahrhunderten verwendet, um Schmerzen zu lindern, Müdigkeit zu bekämpfen und die Stimmung zu verbessern. Oft werden die frischen oder getrockneten Blätter gekaut oder als Tee aufgegossen. In niedrigen Dosen wirkt Kratom dabei eher stimulierend, in höheren Dosen hingegen sedierend bis euphorisierend – ein Effekt, der an Opioide erinnert und durch die dosisabhängige Wechselwirkung mit unterschiedlichen Rezeptor-Subtypen erklärt wird. Westliche Konsumenten nehmen Kratom zunehmend in der Freizeit oder als vermeintlich harmlose pflanzliche Alternative zu Schmerzmitteln ein.
Die pharmakologischen Eigenschaften von Kratom beruhen im Wesentlichen auf den in den Blättern enthaltenen indolartigen Alkaloiden – insbesondere Mitragynin, das mengenmäßig den Hauptanteil stellt, und dessen potenterem Metaboliten 7-Hydroxymitragynin (7-OH). Beide wirken als partielle Agonisten am µ-Opioidrezeptor (MOR), wobei 7-OH eine deutlich höhere Affinität und Wirksamkeit aufweist. Die Affinität von 7-OH an MOR ist vergleichbar mit Morphin, seine Wirkung tritt jedoch schwächer und milder ein. Diese Bindung erklärt die analgetischen, sedierenden und teils euphorisierenden Effekte, von denen Nutzer nach Einnahme von Kratom berichten.
Im Gegensatz zu klassischen Opioiden scheint der atemdepressive Effekt der Kratom-Alkaloide geringer zu sein – dies wurde in Tiermodellen beobachtet und deutet auf eine unterschiedliche Rezeptoraktivierung hin. Dennoch: Bei höheren Dosen, chronischer Anwendung oder gleichzeitigem Konsum von Alkohol oder Benzodiazepinen steigt das Risiko für zentralnervöse Dämpfung und Atemdepression deutlich.
Ein weiterer wichtiger Aspekt: Die Wirkung der Kratom-Alkaloide kann durch Naloxon antagonisiert werden, ein weiterer Hinweis auf die opioidähnliche Wirkung. In klinischen Einzelfällen mit Intoxikationen konnte Naloxon die Symptome wie Atemdepression oder Bewusstseinsstörungen teilweise oder vollständig aufheben – ein Umstand, der auch im Notfallmanagement von Bedeutung ist. Neben der Wirkung auf Opioidrezeptoren beeinflusst Kratom auch andere Neurotransmittersysteme, darunter serotonerge, dopaminerge und adrenerge Bahnen. Dieser multimodale Angriffspunkt wird für die antriebssteigernden, angstlösenden und teils antidepressiven Effekte verantwortlich gemacht, die Anwender gelegentlich berichten.
Die orale Bioverfügbarkeit von Mitragynin liegt bei etwa 30 %, mit einer Halbwertszeit von ca. 23 Stunden, während 7-OH deutlich schneller metabolisiert wird. Der hepatische Abbau erfolgt hauptsächlich über CYP3A4, was Interaktionen mit anderen Medikamenten (z. B. Makrolide, Azol-Antimykotika, Antikonvulsiva) möglich macht.
Regelmäßiger Konsum führt zur Toleranzentwicklung und kann mit Entzugssymptomen wie Nervosität, Schlaflosigkeit, Muskelzittern und gastrointestinalen Beschwerden einhergehen. Auch eine psychische Abhängigkeit wurde dokumentiert, insbesondere bei hochfrequenter oder langfristiger Einnahme. Diese wird durch die opioidähnliche Wirkung sowie die langsame Ausscheidung der Alkaloide begünstigt.
Zahlreiche Anwender berichten über den Einsatz von Kratom bei chronischen Schmerzen, Depression, Angststörungen und insbesondere zur Unterstützung beim Entzug von Opioiden. Tatsächlich zeigen präklinische Studien Hinweise auf eine gewisse Wirksamkeit in diesen Bereichen. Dennoch ist das klinische Datenmaterial dünn: Es fehlen randomisierte, kontrollierte Studien in relevanter Zahl und Qualität. Die meisten Hinweise stammen aus Selbstberichten, Fallstudien und tierexperimentellen Untersuchungen. Auch wenn Kratom auf den ersten Blick wie eine natürliche, harmlose Alternative wirkt, ist eine evidenzbasierte medizinische Verwendung derzeit nicht zu belegen.
Kratom ist keineswegs risikofrei. Zu den akuten Nebenwirkungen zählen Übelkeit, Erbrechen, Verstopfung, Kopfschmerzen, veränderte Pupillenreaktionen, Schwindel und vermehrtes Schwitzen. Bei chronischer Einnahme wurden auch Leberfunktionsstörungen, Schlaflosigkeit, Gewichtsverlust und Störungen des Sexualtriebs beschrieben. In den USA und Europa sind mittlerweile zahlreiche Abhängigkeitsverläufe dokumentiert – mit Entzugssymptomen wie Muskelkrämpfen, Reizbarkeit, Unruhe, Schlaflosigkeit und depressiver Verstimmung nach dem Absetzen.
Zudem wurden Kratom-Produkte in der Vergangenheit teilweise mit anderen Substanzen verunreinigt oder gestreckt, was das Gefahrenpotenzial weiter erhöht. Besonders kritisch ist die gezielte Anreicherung mit 7-Hydroxymitragynin, wie sie nun von der FDA thematisiert wurde. Dieses Potenzieren der Opioidwirkung erhöht die Toxizität und das Suchtpotenzial erheblich – und muss aus Sicht der FDA dringend reguliert werden.
In Deutschland gilt Kratom derzeit weder als Betäubungsmittel noch als zugelassenes Arzneimittel. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) warnte erst kürzlich nachdrücklich vor dessen Anwendung als Selbstmedikation, da weder eine gesicherte Wirksamkeit noch Verträglichkeit durch belastbare Studien belegt sind.
Die Einordnung von Kratom als Nahrungsergänzungsmittel ist nicht möglich: Wird es mit gesundheitsbezogenen oder therapeutischen Aussagen vermarktet, gilt es gemäß Arzneimittelgesetz als zulassungspflichtiges Arzneimittel – und ohne entsprechende Zulassung ist sein Vertrieb in Deutschland unzulässig. Eine Nutzung als „traditionelles pflanzliches Arzneimittel“ ist ebenfalls nicht möglich, da dafür eine dokumentierte Anwendung von mindestens 30 Jahren – einschließlich 15 Jahre innerhalb der EU – erforderlich wäre, was für Kratom nicht gegeben ist.
Landesbehörden sind aufgefordert, den Vertrieb nicht zugelassener Kratom-Produkte zu unterbinden – insbesondere, wenn diese als Arzneimittel beworben werden – und können nach § 21 Abs. 4 Arzneimittelgesetz bei der BfArM eine Einstufung als zulassungspflichtig beantragen. Insgesamt rät das BfArM, Kratom weder in der Selbstmedikation noch außerhalb klinischer Studien zu verwenden – und empfiehlt Fachkreisen, Konsumenten aktiv über Risiken aufzuklären.
Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage: Wie relevant ist Kratom für Deutschland überhaupt? Epidemiologische Daten fehlen weitgehend – weder in der amtlichen Drogenbeobachtung noch in repräsentativen Bevölkerungsstudien ist Kratom nennenswert erfasst. Allerdings zeigen internationale Umfragen ein wachsendes Interesse: In den USA liegt die Nutzungshäufigkeit bei etwa 9 % der Befragten in den letzten 30 Tagen. In Deutschland gibt es noch keine belastbare nationale Datenerhebung; jedoch ist aufgrund des Onlinevertriebs und der zunehmenden Präsenz in sozialen Medien erfahrungsgemäß mit einer steigenden Verfügbarkeit und Nutzung zu rechnen. Bereits jetzt ist es daher sinnvoll, das Thema im Blick zu behalten – vor allem bei Patienten, die nach naturbasierten Schmerzmitteln oder stimmungshebenden Mitteln fragen.
FDA News Release: FDA Takes Steps to Restrict 7-OH Opioid Products Threatening American Consumers. 2025, online.
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