Eine übermäßig große Brust ist mehr als ein kosmetisches Problem – sie kann eine ganze Kaskade an orthopädischen Beschwerden auslösen. Was ihr zum Thema wissen solltet und wie ihr Patientinnen entlasten könnt.
Ein Text von Prof. Dr. Oliver Tobolski
Frau S. ist 34 Jahre alt und Bürokauffrau. Sie trägt Cup-Größe H bei lange bestehender beidseitiger Makromastie mit einem geschätzten Gewicht jeder Brust von 800 g. Der BMI ist 27, sie hat keine Begleiterkrankungen und nimmt keine Medikamente ein. Frau S. beklagt chronische Kopfschmerzen, ein nächtliches Taubheitsgefühl in beiden Händen, sowie thorakale Rückenschmerzen im Bereich Th4–Th8.In der Bildgebung (Röntgen HWS/BWS in 2 Ebenen) zeigt sich eine verstärkte Kyphose von 48° (Norm: 25–40°), beginnende Facettengelenksarthrosen der BWS sowie eine kompensatorische HWS-Lordose von 52° (Norm: 35–45°).Nach 18-monatiger konservativer Therapie (Physiotherapie, selbständige Kräftigungstherapie) ohne Besserung der Beschwerden erfolgte eine Mammareduktionsplastik mit 650 g Resektion beidseits.Das Follow-up nach 12 Monaten zeigte eine sehr erfreuliche Schmerz-Reduktion von 8/10 auf 2/10 auf der visuellen Analogskala. Die Schlafqualität normalisierte sich und Frau S. konnte vollständig an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
Die Makromastie bezeichnet eine außerhalb der Norm liegende Vergrößerung der weiblichen Brustdrüse. Durchschnittlich wiegt eine Brust bei nicht stillenden Frauen 150–400 g. Meist wird ab einem Gewicht von 500 g pro Brust von einer Makromastie gesprochen. Bei einem Gewicht > 1.500 g sprechen einige Quellen von einer Gigantomastie – offizielle Grenzwerte gibt es jedoch nicht.
Eine Makromastie hat systematische biomechanische Auswirkungen auf das gesamte Wirbelsäulensystem: Patientinnen mit einer Makromastie leiden häufig unter chronischen Schmerzen der Brüste, der Schultern, des oberen Rückens und Nackens, degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule, Vermehrung der Kyphose der Brustwirbelsäule (BWS), Vermehrung der Lordose der Halswirbelsäule (HWS) und der Lendenwirbelsäule (LWS), Kopfschmerzen, sowie neurologischen Problemen wie Dysästhesien des Nervus ulnaris und Karpaltunnelsyndrom.
Das ventrale Übergewicht triggert dabei eine pathologische Kaskade: Protraktionsstellung der Schultern, verstärkte Thorax-Kyphose, kompensatorische zervikale Extension. Die veränderte Schultergürtel-Statik führt zu Neuralgien des Nervus ulnaris und Karpaltunnelsyndrom. Die Patientinnen entwickeln unbewusst kompensatorische Körperhaltungen – ein Circulus vitiosus aus Schmerz und Fehlstatik.
Die chronische Fehlstatik beschleunigt degenerative Veränderungen exponenziell: BWS-Segmente entwickeln vorzeitige Facettengelenksarthrosen, die kompensatorische HWS-Hyperlordose verstärkt den Verschleiß. Bandscheiben zeigen frühe Protrusionen, besonders im thorako-lumbalen Übergang. Das muskuläre Gleichgewicht kollabiert: Die Musculi trapezius und levator scapulae entwickeln chronische Trigger-Points bei Atrophie der tiefen Halsmuskulatur.
Was bei Architekten als statisches Problem längst bekannt ist, ignoriert die Medizin hartnäckig: Permanente Übergewichtung nach ventral macht aus der eleganten S-Form der Wirbelsäule eine orthopädische Katastrophe. Die Patientinnen werden zu wandelnden Biomechanik-Experimenten – nur, dass niemand das Versuchsende definiert hat. Besonders perfide: Die Betroffenen passen ihre gesamte Körperhaltung unbewusst an, um das ventrale Übergewicht zu kompensieren.
Goldstandard zur Behandlung der symptomatischen Makromastie ist die Mammareduktionsplastik. Wird dabei pro Seite das Gewicht um mehr als 500 g reduziert, wird der Eingriff von den meisten Krankenkassen als medizinisch indiziert angesehen. Die Datenlage zeigt eine signifikante Schmerzreduktion, eine nachweislich verbesserte Haltung und des Gangbilds. Entscheidend ist frühzeitige Intervention – je früher die Therapie, desto reversibler die spinalen Veränderungen.
Eine Makromastie ist auch in der Orthopädie ein ernst zu nehmendes Krankheitsbild mit systemischen Auswirkungen. Die interdisziplinäre Betreuung zwischen Orthopädie, Gynäkologie plastischer Chirurgie und Schmerztherapie sollte Standard werden.
Bildquelle: Philippe Murray-Pietsch, Unsplash