Ein paar Fotos, ein Kreuzworträtsel, ein Hauch Parfüm: Mehr bleibt von Erna nicht. Viel zu bald ist sie vergessen. Von der Einsamkeit alter Menschen und der Vergänglichkeit der eigenen Existenz.
Nach einem Kaltstart noch vor unserem eigentlichen Dienstbeginn rollen Sarah und ich mit unserem Rettungswagen direkt vor den Haupteingang des Altenheims. Nur das Blaulicht reflektiert in den feuchten Pflastersteinen wie ein gespenstischer Schatten. Der Morgen vermittelt Ruhe, doch zwischen den kahlen Bäumen im Innenhof lauert das Unbehagen.
Zwei junge Polizisten stehen verloren vor einer Absperrung und vermeiden es, hinzusehen – als könnten ihre Blicke die Realität bannen. Ein alter Pfleger kommt uns entgegen, seine Schritte schwer, in seinem Blick eine unsichtbare Last. Wortlos führt er uns zum Ort des Geschehens. Dort liegt sie. Erna. Ein zerbrochenes Spielzeug des Schicksals auf kaltem Stein. Ihr Nachthemd, einst rosa, nun verblichen und fleckig, schimmert wie die Spur eines verblassenden Traums. Ihre grauen Haare umrahmen ihr Gesicht wie filigranes Silber im Wasser.
Trotz allem liegt Würde in ihr und Trotz, als hätte sie auch im Fall darauf bestanden, nicht in Vergessenheit zu versinken. Hinter mir flüstern zwei Pfleger, ihre Stimmen verwoben zu melancholischen Klängen: „Seit Egons Tod hat sie sich immer mehr verkrochen.“ „An manchen Tagen hat sie nur geweint, an anderen stumm die Wände fixiert.“ „Früher war sie fröhlich, hat Karten gespielt, Geschichten erzählt …“ Ihre Worte, kaum hörbar, erzählen die Geschichte eines Lebens, dessen Farben langsam ausblichen wie eine alte Fotografie. Sarah neben mir zieht die Schultern hoch, als wäre ihr kalt, und blickt zum obersten Stockwerk. „Sehen wir uns das Zimmer an?“, flüstert sie. Ich nicke, ohne zu wissen, warum.
Der Flur riecht nach abgestandenem Kaffee und nach Zeit, die resigniert hatte. An Zimmer 407 hängt ein Kunststoffschild, die Namen verblasst: „Erna und Egon Weber“. Die Tür öffnet sich in einen Raum, der auf fast trotzige Weise ordentlich ist, als könne man der Zeit durch Sorgfalt Einhalt gebieten. Die Sonne kriecht durch den dünnen Vorhang. Sie wirft ein Rechteck aus Licht auf die Kommode, als wolle sie sagen: Hier ist noch etwas geblieben. Auf dem Nachttisch liegt ein aufgeschlagenes Kreuzworträtsel, das halbe Wort „Lebensm…“ blieb stehen, als hätte Erna mittendrin vergessen, weiterzudenken.
Daneben liegt ein kleiner Porzellanengel mit angeschlagenem Flügel; ein stummer Zeuge glücklicherer Tage. Ein eingerahmtes Foto zeigt Egons offenes und lebendiges Lächeln, während Erna verlegen und glücklich neben ihm steht – zwei Menschen, vereint in einer Zeit, die längst vergangen ist. Das gesprungene Glas rahmt ihre Erinnerung mit einem schmerzlichen Riss. Auf der Fensterbank welken Pflanzen. An der Wand hängt eine verblichene Kinderzeichnung: bunte Linien, ein schiefes Haus, die Sonne mit Gesicht, ein Herz. „Für Oma und Opa. Weihnachten 2009.“ Die Balkontür steht offen und spricht eine deutliche Sprache dessen, was sich hier vor wenigen Minuten ereignet hat. Ich trete näher, atme Lavendel ein und den Rest eines Parfüms.
Wie viele Tage hatte Erna auf diesem Balkon gestanden, hinausgesehen und darauf gewartet, dass etwas geschah? Vielleicht ein Brief, ein Telefonat, ein Besuch, eine Stimme, die ihren Namen sagte. Wie viel Stille muss ein Mensch ertragen, bevor er sie nicht mehr aushält? Ich trete auf den Balkon, blicke hinaus in den Hof, in dem ihr Leben endete, und weiß: Einsamkeit ist eine Kälte, die unsichtbar und unaufhaltsam in den Knochen wohnt.
Draußen läuft Pflegepersonal vorbei, das Leben geht weiter, ein unbeeindruckter Zug auf ewig gleichen Gleisen. Ein entferntes Scheppern hallt durch den Flur, ein kurzes Lachen wie ein Streichholz, das zu schnell verglüht. Beim Verlassen des Zimmers blicke ich ein letztes Mal zurück. Es scheint alles friedlich, aber ich kann spüren, wie in diesem Raum ein kleiner Kosmos still und unbemerkt zu Ende gegangen war. Etwas blieb in mir zurück – das Gefühl, wie rasch ein Mensch verblassen kann und wie schnell Erinnerung zu Staub wird, bis schließlich niemand mehr nach einem fragt.
Vielleicht beginnt der Tod nicht mit dem Sturz vom Balkon, sondern in jenem Moment, in dem dein Name niemandem mehr auf der Zunge liegt und selbst die Dinge, die du liebtest, verstummen. Ich denke an Erna. Und an die vielen anderen, deren Leben hinter verschlossenen Türen vergeht, während sie warten – auf eine Stimme, die sie erkennt, oder einen Blick, der ihnen zeigt, dass sie noch existieren.Bildquelle: Roman Kraft, Unsplash