KOMMENTAR | Schiefe Zähne, große Lücken oder doch zu eng aneinander: Die Anordnung der Zähne im Kiefer ist für den Laien ein Schönheitsmerkmal. Dann muss eine Spange her – oder nicht? Ästhetisch ist nicht gleich gesund.
Für Eilige gibt’s am Ende des Artikels eine kurze Zusammenfassung.
Kieferorthopädische Behandlungen werden bei nahezu 60 % der Kinder und Jugendlichen durchgeführt. Während Kieferorthopäden in der Regel eine zahnmedizinische Indikation für die Therapien gegeben sehen, sprechen Kritiker von einer ästhetisch motivierten Modeerscheinung oder warnen gar vor Medikalisierung und Überversorgung. Der Anspruch auf kieferorthopädische Leistungen in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) erweckt und fördert den Eindruck, dass es eine medizinische Notwendigkeit für die Durchführung dieser Behandlung gibt. Doch geht es wirklich um Gesundheit? Oder besser gefragt: Welche Krankheit sollen Zahnspangenbehandlungen heilen oder verhindern?
Laut aktuellem Standard der Zahnmedizin und Kieferorthopädie ist als Zahn-, Mund- und/oder Kieferkrankheit „jede von der Norm abweichende Erscheinung im Bereich der Zähne, des Mundes und der Kiefer anzusehen, einschließlich der Anomalien der Zahnstellung und des Fehlens von Zähnen“. Eng damit verknüpft ist eine stigmatisierende und negativ wertende zahnmedizinische Fachsprache. Dabei sind Fehl-Stellungen oder Anomalien gemeint, die individuelle Zahnstellung dagegen nicht genau benannt.
Die Größe der Zähne und die Größe des Kieferknochens sind zwei Dimensionen, die genetisch auf zwei unterschiedlichen Allelen determiniert sind. So kann es dazu kommen, dass kleine Zähne mit einem sehr großen Kiefer kombiniert werden und somit eine lückige Zahnstellung resultiert. Bei einer Kombination von großen Zähnen mit einem kleinen Kiefer kann dagegen ein Engstand resultieren. Dysmorphie und Engstand sind meist nur von vorübergehender Dauer, weil die Kieferknochen – und damit das Platzangebot – zum Zeitpunkt des Zahndurchbruchs längst nicht die endgültige Größe erreicht haben. Es ist aber dieser Moment, welcher Eltern mitunter unruhig schlafen lässt und mit Fragen quält, wie: Bleibt das Bild von Kraut und Rüben etwa bestehen? Müssen wir uns schämen, dass unser Kind schiefe Zähne hat? Welche Konsequenzen drohen, wenn eine kieferorthopädische Behandlung nicht durchgeführt wird?
Das Belassen oder Akzeptieren der individuellen Zahn- und Kieferstellung stellt eine verpflichtende Option in der Beratung von Patienten dar, weil es nicht bewiesen ist, dass eine individuelle Zahnstellung Schäden an Zähnen, Kiefergelenken oder anderen Strukturen, wie der Wirbelsäule, verursachen kann. Auch Vorhersagen zur weiteren Entwicklung der Zahnstellung sind nur sehr bedingt möglich. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass bestimmte Zahn- und Kieferstellungen im Milch- und bleibenden Gebiss nur temporär vorkommen und im bleibenden Gebiss nicht zu beobachten sind.
Ob ein Kieferorthopäde objektiv berät und als Option eine Nichtbehandlung in Erwägung zieht, darf angesichts der Behandlungszahlen stark bezweifelt werden. Sind tatsächlich so viele Kinder und Jugendliche behandlungsbedürftig? Ist jede kleine Abweichung vom Lineal sofort behandlungswürdig oder werden Diagnosen hier mithilfe einer Gießkanne erzeugt? Es handelt sich immerhin um eine invasive Maßnahme, die nachweislich in vielen Fällen mit erheblichen Nachteilen für die Kinder und Jugendlichen verbunden ist. Wenn eine medizinische Methode dazu oftmals mithilfe von Ratenzahlungsplänen für die Angehörigen verbunden wird und durch die Finanzierung die Budgets der Familien erheblich belastet werden, so sei die Frage nach der Sinnhaftigkeit und medizinischen Notwendigkeit dieser als therapeutisch deklarierten Maßnahme nicht nur erlaubt – sie ist längst überfällig.
Nach heutigem Kenntnisstand ist es unklar, welche Zahn- bzw. Kieferstellungen eine Krankheit (z. B. Karies, Parodontopathien, kraniomandibuläre Dysfunktionen = „CMD“) verursachen und welche nicht. Man geht davon aus, dass nur in wenigen Fällen (unter 10 %) eine kieferorthopädische Behandlung überhaupt im Sinne einer Heilung oder Vorbeugung von Krankheiten medizinisch indiziert ist.
Bevor eine kieferorthopädische Apparatur eingeklebt und eingesetzt wird, also eine „Bebänderung“ stattfindet, sollten sowohl Eltern als auch Kinder über die drohenden Spätschäden aufgeklärt sein, die sich Kieferorthopädie-Patienten im Zuge einer Behandlung einhandeln können. Evidenz zu iatrogenen Spätfolgen durch kieferorthopädische Behandlungen gibt es für Karies oder dessen Vorstufen, sowohl sichtbar an den Glattflächen, als auch in okkulter Form in den Zahnzwischenräumen.
Von den iatrogen induzierten Spätfolgen einer kieferorthopädischen Behandlung ist Karies mit ihren Vorstufen die häufigste, wahrscheinlichste und am besten untersuchte. Gingivitis/Parodontitis sind häufig reversibel. Wurzelresorptionen und Devitalisierungen kommen selten vor.
Vor einer kieferorthopädischen Behandlung muss eine ausführliche Abklärung des individuellen Kariesrisikos erfolgen. Ist im jugendlichen Alter schon mehr als eine Füllung vorhanden, so ist von einer erhöhten Kariesanfälligkeit auszugehen und mit einem erhöhten Nebenwirkungsrisiko sowohl in Bezug auf White Spot Lesions, als auch auf Approximalkaries z. B. durch eine genetisch bedingte reduzierte Pufferkapazität des Speichels zu rechnen.
Die allermeisten Patienten sind gesetzlich versichert (ca. 90 %). Ein Antrag auf Bezuschussung einer kieferorthopädischen Behandlung lässt einen Zuschuss von der Krankenkasse erwarten. Dieser Zuschuss erweckt bei den Versicherten den Eindruck, eine solche Behandlungsmaßnahme sei medizinisch dringend notwendig und damit auch zweifelsfrei sinnvoll. Daher gibt es nur wenige Versicherte, die hier angesichts der von Seiten der Kieferorthopäden oftmals als „ganzheitlich“ angepriesenen Methodik Marketinggründe oder gar Umsatzstreben der Krankenkassen in Betracht ziehen.
On top kommt die Angst vor drohender Dysmorphie ins Spiel und der Entscheidungsdruck für eine Durchführung wird ins Unerträgliche gesteigert. Spätestens jetzt läuten auf dem Behandlungsstuhl die Alarmglocken, die die Botschaft einer drohenden dysästhetischen Bewusstseinsbildung verkünden. Daher lässt man besser gar nicht erst Zweifel aufkommen und verdrängt Gedanken an eine mögliche Behandlungsverweigerung. Schließlich wird dem Patienten durch die Gesellschaft ein Schönheitsideal aufgedrängt, dem er entsprechen will.
Eine Behandlung ist gewünscht und das Vorgehen der Kieferorthopäden routiniert. Wie gehen die Zähne des Patienten damit um und welche Risiken entstehen, die therapeutisch vom Zahnarzt behandelt werden müssen?
Das Einsetzen der kieferorthopädischen Apparatur erfordert zunächst ein Bekleben der Zähne mit den Befestigungsösen, den Brackets. Durch die eingesetzte Apparatur entstehen viele schwer zugängliche, künstliche Nischen, die sich sowohl der Selbstreinigung durch Lippe und Zunge als auch der Reinigung durch die Zahnbürste entziehen. Speiseretentionen können in der Folge, wie oben bereits beschrieben, Karies nach sich ziehen.
Die in den Zahnzwischenräumen entstehende Approximalkaries ist ausschließlich mit hoher Invasivität zu behandeln, da zur Behandlung dieser Karieslokalisation der Zahn von der Kaufläche aus mit dem Bohrer eröffnet werden muss. Das ist nur unter erheblicher Schädigung noch gesunder Zahnsubstanzen möglich und verursacht dadurch häufig langfristig eine starke Reduktion der Überlebensprognose des betroffenen Zahnes.
Die andere, häufig mit kieferorthopädischen Behandlungen assoziierte Form der Demineralisierung bilden White Spot Lesions. Diese sichtbare Form der Karies verursacht einen erheblich höheren Leidensdruck bei Patienten als die versteckte Approximalkaries, steht aber in puncto therapeutischer Konsequenzen mit der Approximalkaries auf einem Treppchen. Denn eine ästhetisch zufriedenstellende Therapie ist auch hier häufig mit der Opferung gesunder Zahnsubstanz verbunden.
Wann ist eine kieferorthopädische Behandlung eigentlich abgeschlossen? Eine Behandlung sollte abgeschlossen sein, wenn das Behandlungsziel erreicht ist. Das Behandlungsziel ist in der Regel das Erreichen der regulären Bisslage, auch eugnathe Bisslage genannt. Hierbei ergibt sich eine regelmäßige Verzahnung der Oberkieferzähne mit denen des Unterkiefers. Diese ist verbunden mit einer optimalen statischen Belastung der Zähne. Eine fehlende Verzahnung, beispielsweise in Form eines Kopfbisses, stellt leider häufig den nach vielen Jahren Behandlung erzielten Behandlungs-Endzustand dar. Weil eine solche Kopfbisslage häufig nur mit invasiven chirurgischen Behandlungsmethoden (z. B. durch eine Segment-Osteotomie) korrigiert werden kann, endet eine Behandlung nach meiner Erfahrung häufig aber leider nur suboptimal am Behandlungs-Endzustand und nicht, wie vorher gedacht und versprochen, am gewünschten und idealisierten Behandlungsziel.
Treten kariöse Defekte während der kieferorthopädischen Behandlung auf, sind diese Folgen lebenslang. Da bei jeder Art von Füllungstherapie stets gesunde Zahnsubstanz geopfert wird, um die Füllungsränder in den gesunden Bereich zu verlegen, ist immer mit einer Reduzierung gesunder Zahnsubstanz und in der Folge mit einer Reduzierung der weiteren Prognose des betroffenen Zahnes zu rechnen.
In der Kieferorthopädie ist seit Langem bekannt, dass Zahnstellungen nicht stabil bleiben, weder vor noch nach einer kieferorthopädischen Behandlung. Häufig kommt es nach einer solchen Behandlung zu einem „Zurückwandern“ der Zähne in die Ausgangsposition. Also wurde für dieses Problem eine Lösung gefunden: Retainer sollen dieses Rezidiv verhindern. Diese Retainer stellen einerseits ein logopädisches Handicap dar, weil die Bildung von S-Lauten erschwert werden kann. Andererseits und problematischer als leichtes Lispeln ist jedoch die massive Behinderung der Zahnpflege durch den eingesetzten Retainer.
Die entstehende Verblockung der mit einem Retainer verbundenen Zähne macht eine Benutzung von Zahnseide unmöglich. So kann es in der Folge zu Speiseretentionen und nachfolgender Entzündungen im Bereich des Zahnfleischsaumes kommen. Entzündete Zahnfleischregionen sind tückisch, weil sie im Bereich des angrenzenden Kieferknochens ebenfalls eine Entzündung induzieren. Diese Entzündungen führen häufig langfristig zu Knochenabbau, Zahnlockerung und somit allzu häufig zum Zahnverlust. Oftmals sah ich in meiner Praxis Patienten, die nach jahrzehntelanger Tragezeit eines Retainers massiven Höhenverlust des Alveolarknochens erlitten haben, was in der Konsequenz zur Zahnlockerung und in Einzelfällen zum frühzeitigen Verlust unterer Frontzähne führte.
Nachdem das Behandlungsende erreicht ist und die lang ersehnte Entfernung der Brackets erfolgt, wartet noch immer manch ein Kieferorthopäde mit einer Hiobsbotschaft auf. Um das Behandlungsergebnis zu „sichern“, also ein Zurückschieben der Zähne in die verpönte Ausgangsposition zu verhindern, sei es sinnvoll, die Weisheitszähne zu entfernen.
Obwohl es für die Beteiligung der Weisheitszähne an Zahnverschiebungen im Gesamtgebiss, des sogenannten „tertiären Engstands“, keinerlei Beweise gibt und selbst der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie in einer offiziellen Stellungnahme hierzu betont, dass keine Eindeutigkeit in der Beweislage für die Sinnhaftigkeit einer Weisheitszahnentfernung vorliegt, werden Kinder und Jugendliche regelmäßig zum Kieferchirurgen geschickt.
Wertvolle Reserven gehen bei der voreiligen Entfernung der Weisheitszähne verloren. So kommt es später im Erwachsenenalter häufig wegen kariöser Zerstörung zur Entfernung eines ersten großen Backenzahnes (6er), ohne dass ein Weisheitszahn durch spontane Aufwanderung (Mesialbewegung des Zähne 7 und 8 in Position der Zähne 6 und 7) oder Transplantation die entstandene Zahnlücke kompensieren kann.
Nicht nur Schönheit im Sinne eines unauffälligen Mainstreams ist mit einer regulierten Zahnstellung verbunden. Böse Zungen verknüpfen die Ausstrahlung regulierter Gebisse mit Begriffen wie Stromlinie, Konformität, Gleichmacherei und Langeweile. Ganz im Gegensatz zu einer begradigten Zahnstellung sind unregulierte Zahnstellungen oftmals Ausdruck von Individualität und Selbstbewusstsein. Otto Rehhagel, ehemaliger Trainer von Werder Bremen – undenkbar ohne seine Schneidezahnlücke. Ob Kate Moss dieselbe Ausdrucksstärke besäße, wenn ein Kieferorthopäde ihr die oberen Frontzähne begradigt hätte? Jürgen Vogel, ein Charakterschauspieler: Ob er mit einem lineal-optimierten und lückenlosen Gebiss dieselbe Präsenz ausstrahlen würde und dieselben Berufschancen hätte?
Welche Evidenz wird uns geliefert, damit wir kieferorthopädische Behandlungen als wirksame therapeutische Maßnahme in den Leistungskanon der gesetzlichen Krankenversicherung zulassen? Die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit bestimmter kieferorthopädischer Behandlung kann inzwischen mit einem hohen Evidenzgrad belegt werden. So zeigte sich, dass abnehmbare (sog. funktionskieferorthopädische) Apparaturen keinen klinisch relevanten Einfluss auf das Kieferwachstum haben ‒ im Gegensatz zu festsitzenden Apparaturen. Dennoch werden ungefähr 60 von 100 Patienten mit den unwirksamen, herausnehmbaren Apparaturen behandelt. Ein Grund dafür ist möglicherweise, dass diese großzügig von der GKV finanziert werden. Ferner ist aber auch belegt, dass herausnehmbare Apparaturen von den Patienten viel seltener getragen werden als gewünscht.
Die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform der Kieferorthopädie basierend auf Patientenschutz, Verteilungsgerechtigkeit und evidenzbasierter Qualitätssicherung sind überfällig. Die beschriebenen aktuellen Qualitätsprobleme in der Kieferorthopädie sind seit langer Zeit bekannt, aber noch immer nicht ausreichend thematisiert worden. Es wird eine gemeinsame Anstrengung notwendig sein, und zwar aller Beteiligten, welche in einem nationalen Aktionsplan zur Qualitätssicherung in der Kieferorthopädie münden müsste.
1. Erarbeitung und Nutzung eines Models zur Bestimmung der medizinischen Notwendigkeit, welches sich nicht nur auf wissenschaftlichen Kriterien stützt, sondern auf untrennbar verbundene Werteentscheidungen. Folgende Fragen gilt es, zu erörtern: Sollen Behandlungen von der Gemeinschaft finanziert werden? Darf die Gesellschaft bestimmte Zahnstellungen stigmatisieren und die Menschen zu KFO-Patienten machen?
2. Überarbeitung des Qualitätssicherungssystems auf Richtlinien, Zuzahlungen, Vergütung und Qualitätskontrolle.
3. Regelmäßige Evaluationen und Gesundheitsberichterstattungen in der Kieferorthopädie zum Monitoring mit verbindlich geregelten Haftungs- und Verantwortlichkeitszuordnungen.
Rund 60 % der Kinder und Jugendlichen erhalten eine kieferorthopädische Behandlung, Kritiker warnen vor Überversorgung und ästhetisch motivierten Eingriffen.
Medizinische Indikation oft unklar, individuelle Zahnstellungen sind meist harmlos und teils vorübergehend.
Nebenwirkungen und Risiken: Karies, White Spots, Gingivitis, Parodontitis, Wurzelresorptionen, Schmelzschäden, selten Zahnnervverlust.
Meistens sind Retainer und lange Nachsorge nötig, können aber Zahnpflege erschweren und zu Zahnfleischproblemen bis hin zu Zahnverlust führen.
Weisheitszahnentfernungen werden häufig empfohlen, Evidenz für Nutzen fehlt; kann langfristig zu unnötigem Zahnverlust führen.
Forderung nach Reform: klare Indikationskriterien, Qualitätssicherung, gerechte Finanzierung, kritische Überprüfung des hohen Behandlungsniveaus.
Bildquelle: Roma Kaiuk, Unspleash