Ein Gerichtsurteil erhitzt die Gemüter: Ein Kardiologe muss fast 500.000 Euro zahlen – aufgrund eines Formfehlers. Warum das Gericht am Urteil festhält und wie ihr euch vor Regressforderungen schützen könnt.
In den vergangenen Tagen waren die Medizin-Medien voll mit Überschriften wie „490.000 Euro: Regress wegen Unterschriftenstempels bestätigt“, „Internist drohen 1,24 Millionen Euro Regress“ oder „Stempel statt Unterschrift: Fast 500.000 Euro Regress“. Hintergrund ist das kürzliche verkündete Urteil des Bundessozialgerichts, nach dem die persönliche Unterschrift eine zwingende Voraussetzung für die Rechtsgültigkeit einer Verordnung ist.
Das bedeutet für einen Kardiologen, der für seine Sprechstundenbedarfsverordnungen über mehrere Jahre einen Unterschriftenstempel anstelle eines Stifts nutzte, eine Regressforderung von aktuell 487.000 Euro. Wie sein Anwalt gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt erklärte, bestehen weitere Regressforderungen in Höhe von 758.000 Euro. Sollte auch diese Forderung gerichtlich bestätigt werden, muss der Mediziner also 1,245 Millionen Euro zahlen – eine existenzbedrohende Summe.
In der Diskussion, die nach dem Urteil entstand, taucht ein zentraler Punkt immer wieder auf: Die Indikationsstellung der Verordnungen wurde zu keinem Zeitpunkt bezweifelt. Es handelt sich lediglich um einen formalen Fehler. Die Empörung unter Medizinern ist entsprechend groß: Der Arzt soll einen Schaden ersetzen, der eigentlich gar nicht entstanden ist. Aus nicht-juristischer Sicht scheint das Urteil nur schwer nachvollziehbar.
In einer Stellungnahme kritisiert der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung das Urteil scharf: „Geradezu absurd und unglaublich, aber leider wahr: Wegen eines Formfehlers überziehen Krankenkassen ärztliche Kollegen einer Praxis, die medizinisch vollkommen korrekt gehandelt haben, mit einem ruinösen Regress in Höhe von fast 500.000 Euro.“ Ebenso wird betont, dass zwar ein formeller Fehler vorlag, jedoch kein Schaden entstanden ist – weder finanziell noch für die Patienten.
Die Pressesprecherin des Bundessozialgerichts betont hingegen, dass in diesem Fall die „Pflichtverletzung des Arztes“ im Vordergrund stehe, die „nicht mit den Qualitätsansprüchen bei Arzneimittelverordnungen in Einklang“ stände. Laut BSG ist die Unterschrift eines Arztes mehr als nur ein formeller Vorgang, sie diene dem Schutz der Versicherten.
Im Allgemeinen entstehen Regressforderungen, wenn Personen oder Unternehmen im Vorfeld erhaltene Gelder zurückzahlen müssen, sofern diese retrospektiv als zu hoch oder unangemessen bewertet werden. Im medizinischen Kontext handelt es sich i. d. R. um Arzneimittel- oder Leistungsregresse. Ein Arzneimittelregress entsteht, wenn entweder ein verordnetes Medikament nicht notwendig oder unwirtschaftlich war, weil z. B. unverhältnismäßig teure Präparate ausgewählt wurden. Bei einem Leistungsregress werden Honorare, die ein Arzt für erbrachte Leistungen erhalten hat, zurückgefordert, wenn sie als unwirtschaftlich oder nicht notwendig betrachtet werden. Auslöser einer Regressforderung sind z. B. statistische Auffälligkeitsprüfungen durch die KVen, die eine Wirtschaftlichkeitsprüfung nach sich ziehen. Hinzu kommen sogenannte Einzelfallprüfungen, in denen die Verordnungen für einen einzelnen Versicherten auf Antrag der Krankenkasse geprüft werden.
Die Höhe des Regresses ergibt sich aus den Kosten der Leistungen bzw. der Verordnungen und der Zeitspanne, bis der Schaden bei der Krankenkasse oder kassenärztlichen Vereinigung auffällt. Im aktuellen Fall sind die Verordnungen des Arztes aus 14 Quartalen betroffen und die Summe entsprechend hoch. Eigentlich verjähren Regressforderungen nach 3 Jahren, bei der gesetzlichen Krankenversicherung können jedoch Sonderbestimmungen aus dem Sozialgesetzbuch V zum Tragen kommen – die Verjährungsfrist wird dann ausgesetzt.
Regressforderungen in der Höhe des aktuellen Unterschriftenfalls sind eine Seltenheit und doch sind viele verunsichert. Dass ein Formfehler zu derart hohen Zahlungen führen kann, füttert die Sorge, unbeabsichtigt in den finanziellen Ruin zu schlittern. Einerseits wird nun argumentiert, dass klar sein dürfte, dass eine persönliche Unterschrift nicht durch einen Stempel ersetzt werden kann, allein schon aufgrund des Missbrauchspotenzials. Auf der anderen Seite tragen viele offizielle Anschreiben heute den Hinweis „Dieses Schreiben wurde maschinell erstellt und ist ohne Unterschrift gültig“ – ein Umstand, der zwar eine gesetzliche Grundlage hat, den Ärger der Ärzteschaft jedoch zusätzlich verstärkt.
Durch das Urteil und die Sorge vor hohen Regressforderungen im Allgemeinen entsteht ein weiteres Problem: Eine niedergelassene Tätigkeit erscheint riskanter und weniger attraktiv. Aus der Sicht junger Mediziner muss man sogar sagen: noch weniger attraktiv. In ihrer Stellungnahme fordern die KBV-Vorstandsmitglieder daher eine gesetzliche Klarstellung und Ausweitung der sogenannten Differenzkostenberechnung. Aktuell betreffen Regressforderungen die gesamte Kostensumme; bei einer Differenzkostenberechnung wäre dann nur die Differenz zwischen den tatsächlichen (zu hohen) Kosten und den Kosten bei wirtschaftlicher Verordnung zu zahlen. Im vorliegenden Fall also 0 Euro.
Ganz so einfach ist die Lage allerdings nicht, da es im Urteil nicht unmittelbar um einen entstandenen finanziellen Schaden geht. Nach Argumentation des Bundessozialgerichts, sowie des Sozialgerichts in der ersten Instanz, ist ein sogenannter „sonstiger Schaden“ im Sinne des § 48 Abs. 1 BMV-Ä (Bundesmantelvertrag – Ärzte) entstanden: Der Arzt habe die Pflicht zur persönlichen Leistungserbringung verletzt. Da die Verordnungen formal unwirksam waren und dennoch eingelöst wurden, sei den Krankenkassen daraus letztlich ein normativer Schaden entstanden. Juristisch gesehen ist also ein Schaden entstanden, wenn auch kein klassischer, wirtschaftlicher Schaden.
Aus juristischer Sicht ergibt sich also eine schlüssige Argumentation. Tritt man gedanklich einen Schritt zurück – an den Ort, wo die meisten Nicht-Juristen stehen dürften –, erscheint das Urteil jedoch etwas weltfremd bzw. realitätsfern. Der verurteilte Mediziner und seine Anwälte bereiten daher aktuell eine Verfassungsbeschwerde vor. „Es kann nicht sein, dass allein aus formalen Gründen hohe Regressforderungen festgesetzt werden, die die Existenz von Leistungserbringern bedrohen, obwohl die erbrachte Leistung selbst nicht zu beanstanden ist“, argumentiert der Anwalt des Arztes. Das letzte Wort ist also noch nicht gesprochen.
Die Antwort darauf, wie man sich als niedergelassener Arzt vor einem Regress schützt, ist leider unbefriedigend – und gleichzeitig offensichtlich: sorgfältig arbeiten, Wirtschaftlichkeit im Blick behalten und gut dokumentieren. Entlassmedikationen sollten geprüft und nicht blind übernommen werden. Bei Off-Label-Use ist eine besonders gute Dokumentation wichtig, Indikation, Dauer und Menge sollten festgehalten werden. Ein geplanter Off-Label-Use kann auch im Vorfeld beantragt werden. Vor einigen Verordnungsfehlern kann das PVS warnen, hier lohnt sich ein Blick in die Einstellungen. Zudem ist es wichtig, Patienten in Pflegeheimen immer persönlich zu sehen und nicht automatisch Folgeverordnungen auszustellen. So verhindert man auch Verordnungen während eines stationären Aufenthalts. Zudem gilt: keine Blankorezepte ausstellen.
Droht ein Regress, ist es sinnvoll, rechtzeitig juristischen Rat einzuholen. Das geht z. B. über Berufsverbände oder die Ärztekammer. Zudem bieten KVen in der Regel Seminare zu Wirtschaftlichkeitsprüfungen an. Dort lernt man, Stolperfallen zu erkennen und zu vermeiden. In den meisten Fällen sind die Regresssummen relativ gering und können oft mit Dokumentationsnachweisen entkräftet werden. Das kostet jedoch Zeit und Nerven.
Der Fall zeigt eindrucksvoll, wie streng die Sozialgerichte bei der Einhaltung formaler Pflichten sein können. Das Urteil befeuert die Debatte rund um Reformen der Regressregelungen. Es bleibt abzuwarten, ob die geplante Verfassungsbeschwerde Erfolg hat. Solange wird die Unsicherheit für Ärzte erst einmal bleiben.
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