Ein ambitionierter Läufer wird über Nacht zum Notfall: Plötzliche, extreme Schmerzen im Vorfuß führen ihn in unsere orthopädische Praxis. Und doch ist es keine Sportverletzung.
Ein Text von Prof. Dr. Oliver Tobolski
Ein 56-jähriger Marathonläufer betritt die orthopädische Praxis mit deutlich humpelndem Gangbild. Nach dem gestrigen 10-km-Training ging er entspannt ins Bett – um mit höllischen Schmerzen im Vorfuß aufzuwachen. Sein Großzehengrundgelenk pocht wie nach einem Hammerschlag, jeder Schritt eine Qual. „Herr Doktor, ich kann nicht mal die Socke anziehen!“ Seine erste Vermutung: Stressfraktur oder Sehnenverletzung nach der Trainingsbelastung.
Bei der Untersuchung zeigt sich ein typisches Bild: hochrotes, überwärmtes und geschwollenes Großzehengrundgelenk – klassische Podagra. Der erfahrene Läufer wird zum Gicht-Patienten. Willkommen in der modernen Sportorthopädie, wo nicht alles eine Sportverletzung ist!
Die gute Nachricht: Gicht diagnostizieren wir primär klinisch. Rötung, deutliche Überwärmung und stechend-pochender Schmerz ergeben ein eindeutiges Bild. Eine aufwendige Gelenkpunktion mit Kristallnachweis bleibt unklaren Fällen oder Mischbildern vorbehalten. Pathophysiologisch kristallisiert Mononatriumurat in der Synovialmembran und löst über aktivierte Neutrophile eine heftige Entzündungsreaktion aus – der Körper kämpft gegen seine eigenen Ablagerungen.
Trotz klinischer Diagnose ist eine Blutanalyse unverzichtbar. Neben der Harnsäurebestimmung prüfen wir Nierenfunktion (Kreatinin, GFR), Entzündungsparameter (CRP, BSG) und Stoffwechselstatus. Wichtig: Akut kann die Harnsäure normal oder sogar erniedrigt sein – der Anfall selbst mobilisiert die Kristalle. Erst nach Abklingen des Anfalls zeigen sich die wahren Serumspiegel, die am besten durch den Hausarzt überprüft werden. Zusätzlich werden Komorbiditäten wie Hypertonie und Niereninsuffizienz abgeklärt, die eine Hyperurikämie häufig begleiten.
Sofortige Schmerzreduktion steht im Fokus: NSAR hemmen die Cyclooxygenase, niedrig dosiertes Colchicin blockiert die Neutrophilenwanderung, Glukokortikoide dämpfen den Zytokinsturm. Die Auswahl richtet sich nach Laborwerten, Begleiterkrankungen und Nierenfunktion – individualisierte Medizin statt Schema F. Nach dem Akutschmerz beginnt der eigentliche orthopädische Auftrag: gezielte Funktions- und Bewegungsanalyse, gelenkschonende Mobilisation und individualisierte Übungsprogramme gegen postentzündliche Dysbalancen.
Frühzeitige Diagnose, individuell angepasste Akuttherapie und konsequente Langzeitstrategie – das Team aus Hausärzten, Orthopäden und Rheumatologen hält Gicht mithilfe moderner Leitlinien langfristig in Schach. So erlangen Sportler die volle Belastbarkeit zurück – ohne schmerzhaften Rückfall.
Engel et al.: Update: Gicht in der Hausarztpraxis auf Grundlage der interdisziplinären S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Gicht. Z Allg Med, 2025. doi: 10.1007/s44266-025-00385-y
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