Bis 2050 könnte jeder Zweite kurzsichtig sein. Frühzeitige Diagnostik, viel Tageslicht und neue Therapieoptionen sollen gegensteuern. Was ihr mit Blick auf die Zukunft wissen müsst.
Kurzsichtigkeit (Myopie) bei Kindern nimmt rasant zu – mit gravierenden Folgen für die Augengesundheit. Neben verringerter Bildschirmzeit und mehr Bewegung rückt ein neuer Ansatz der Vorbeugung in den Fokus: niedrig dosiertes Atropin, welches nun erstmals als Fertigarzneimittel verfügbar wird. Was die aktuelle Studienlage zeigt, wie die Tropfen wirken und welche Alternativen es gibt.
Kurzsichtigkeit nimmt weltweit epidemische Ausmaße an. Laut WHO lag der Anteil Betroffener 2020 bei etwa 34 % – Prognosen sprechen von bis zu 50 % bis 2050. Kinder und Jugendliche sind besonders stark betroffen – aktuelle Daten zeigen eine weltweite Prävalenz von über einem Drittel. In Europa liegt die Prävalenz bei Schulkindern zwischen 2,4 % und 42,7 %, je nach Region und Alter; in Deutschland beispielsweise steigt sie bis zum 17. Lebensjahr von 2 % auf rund 26 %. Diese Entwicklung ist unter anderem deshalb besorgniserregend, weil Myopie das Risiko für Netzhautablösungen, glaukomatöse Veränderungen, Katarakte und Makuladegeneration deutlich erhöht.
Hinzu kommen Umweltfaktoren: Jede zusätzliche Bildschirmstunde am Tag erhöht das Myopierisiko um etwa 21 % (hier). Lockdown und Home-Schooling ließen beispielsweise in Schottland die Myopie bei Vorschulkindern um 42 % ansteigen. Mehr Zeit im Freien dagegen hat sich als präventiv erwiesen (z. B. in Taiwan). Während sich dieser Ansatz besonders bei noch nicht kurzsichtigen Kindern bewährt, ist sein Einfluss auf das Fortschreiten einer bereits bestehenden Myopie begrenzt. Um dieses in solchen Fällen dennoch zu verlangsamen, kommen ergänzend pharmakologische Strategien wie die Atropintherapie zum Einsatz.
Atropinsulfat wirkt dabei als nicht-selektiver muskarinerger Antagonist, hemmt die Akkommodation (Cycloplegie), die Dopaminfreisetzung in der Retina und verursacht eine Verstärkung der Choriolar-Dicke – alles Faktoren, die das Längenwachstum des Augapfels bremsen (hier). Meta-Analysen zeigen, dass die Wirksamkeit zwischen 0,01 % und 1 % Atropinkonzentration vergleichbar ist, während Nebenwirkungen dosisabhängig zunehmen.
Niedrig dosierte Atropinlösungen (0,01 %) erreichen in asiatischen Studien signifikante Wirksamkeit und hohe Verträglichkeit; höhere Konzentrationen (0,05 %) sind effektiver, aber weniger verträglich. Im LAMP-Trial über Konzentrationen von 0,01 %, 0,025 % und 0,05 % zeigte sich eine Dosierungseffektivität mit guter Verträglichkeit. Auch systematische Reviews stützen die gute Balance von Effektivität und Verträglichkeit, insbesondere bei 0,01 %. In europäischen und nordamerikanischen Studien fielen die Ergebnisse teils variabler aus, insgesamt bestätigte sich jedoch die Wirksamkeit auch in diesen Populationen.
Mit Ryjunea® (Wirkstoff: Atropin 0,01 %) wurde europaweit erstmals ein zugelassenes Fertigarzneimittel zur Myopieprogressionskontrolle für Kinder (3–14 Jahre) verfügbar. Die Zulassung basiert auf der STAR-Studie – einer randomisierten, placebokontrollierten Phase‑III-Studie zur Wirksamkeit von Ryjunea® (SYD‑101) auf die Myopieprogression bei Kindern. Laut Unternehmensangaben erzielte die Behandlung über 2 Jahre eine 30%-ige Reduktion der Myopieprogression bei guter Verträglichkeit. Die einmal tägliche Abenddosis ist gut verträglich, übliche Nebenwirkungen wie Lichtempfindlichkeit sind selten.
Bislang werden niedrig dosierte Atropin-Augentropfen – etwa in der in Studien erprobten Konzentration von 0,01 % – in Deutschland als individuelle Rezeptur hergestellt. Dazu wird meist eine höher konzentrierte Atropin-Injektionslösung aseptisch verdünnt, abgefüllt und mit kurzer Haltbarkeit (oft nur wenige Wochen) an die Patienten abgegeben. Dieser Prozess ist zeitaufwendig und erfordert einen Reinraum sowie strenge Qualitätskontrollen. Eine fertige Lösung als zugelassenes Fertigarzneimittel mit standardisierter Qualität, definierter Haltbarkeit und einheitlicher Gebrauchsinformation ermöglicht eine unkomplizierte und sichere Anwendung für Patienten.
In der Beratung sollten Dosierung und Applikationszeitpunkt, mögliche Nebenwirkungen, die Bedeutung einer konsequenten Anwendung sowie die Notwendigkeit einer engmaschigen ophthalmologischen Kontrolle klar kommuniziert werden. So lässt sich die Behandlung optimal in ein umfassendes Managementkonzept einbinden, das langfristig das Risiko schwerer Folgeschäden am Auge reduziert.
Neben pharmakologischen Ansätzen wie der Anwendung von Atropin-Augentropfen gehört dazu auch die Empfehlung, mehr Zeit im Freien zu verbringen, die tägliche Bildschirmzeit zu begrenzen und eine frühzeitige augenärztliche Diagnostik mit regelmäßiger Progressionskontrolle zu etablieren. Zahlreiche Studien und Metaanalysen belegen inzwischen eindeutig, dass regelmäßige Aufenthalte im Freien das Risiko für die Entwicklung einer Kurzsichtigkeit bei Kindern und Jugendlichen deutlich senken. Schon eine zusätzliche Stunde Tageslicht pro Tag kann das Erkrankungsrisiko um etwa 13–20 % reduzieren. Dieser Schutzeffekt ist dosisabhängig: Kinder, die wöchentlich deutlich mehr Zeit im Freien verbringen – etwa 16 Stunden oder mehr – haben im Vergleich zu solchen mit nur wenigen Stunden eine um bis zu zwei Drittel geringere Wahrscheinlichkeit, kurzsichtig zu werden.
Besonders ausgeprägt ist der Nutzen bei Kindern, die noch nicht myop sind; bei bereits bestehender Kurzsichtigkeit verlangsamt sich das Fortschreiten hingegen nur geringfügig bis gar nicht. Als Hauptmechanismus gilt die höhere Lichtintensität im Freien, die über eine vermehrte Dopaminfreisetzung in der Netzhaut das übermäßige Längenwachstum des Auges hemmt. Faktoren wie körperliche Aktivität oder Vitamin-D-Spiegel scheinen eine geringere Rolle zu spielen.
Fachgesellschaften empfehlen daher, Kinder und Jugendliche täglich mindestens 90 bis 120 Minuten im Freien zu beschäftigen – idealerweise bei hellem Tageslicht und ohne dominante Naharbeit. Diese einfache, nichtinvasive Präventionsmaßnahme kann langfristig einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Myopie-Prävalenz leisten und sollte fester Bestandteil von Präventionsprogrammen in Schulen und Familien sein. Erfolgreiche Beispiele sind Schulprogramme in Taiwan und Australien, die durch verpflichtende Pausen im Freien die Myopieprävalenz bei Grundschülern deutlich senken konnten.
Bildquelle: Andrej Lisakov, Unsplash