Die WHO hält sie für überflüssig, die USA bestehen drauf – für Deutschland geht es um Tradition: Sollen Booster-Impfungen gegen Tetanus und Diphterie Routine sein? Eine Frage, die neben der Wissenschaft längst auch die Politik umtreibt.
Vakzine gegen Tetanus und Diphtherie haben die Medizin revolutioniert – seit ihrer Einführung sind die Erkrankungen in westlichen Ländern fast verschwunden. Es handele sich um „zwei der erfolgreichsten Impfstoffe, die je entwickelt wurden“, schreiben die Autoren einer neuen Übersichtsarbeit. Seit Einführung des Impfschutzes habe sich die Mortalität um mehr als 99 Prozent verringert.
Doch während Ärzte die Krankheiten zurückgedrängt haben, lebt eine alte Impfgewohnheit weiter: die routinemäßige Auffrischung alle zehn Jahre. Diese Empfehlung stammt aus den 1960er Jahren, als Daten noch spärlich waren. Seither hat sie sich verselbstständigt – eine medizinische Tradition, die längst stärker auf Gewohnheit als auf Evidenz basiert.
Immunologische Daten sprechen klar gegen die Notwendigkeit regelmäßiger Booster.
Auch die epidemiologischen Befunde sind eindeutig:
In ihrer Übersicht machen die Autoren aber auch deutlich: Es gibt Situationen, in denen Auffrischimpfungen nach wie vor unverzichtbar bleiben. Besonders gilt das im Notfall, wenn eine Verletzung ein erhöhtes Risiko für eine Tetanus-Infektion birgt. Eine weitere wichtige Indikation ist die Schwangerschaft. Hier wird die sogenannte Tdap-Impfung empfohlen, die neben Tetanus und Diphtherie auch vor Keuchhusten schützt. Sie bewahrt nicht nur die Mutter vor einer Infektion, sondern überträgt gleichzeitig Antikörper auf das Kind und schützt so das Neugeborene in den ersten, besonders vulnerablen Lebensmonaten.
Auch Reisen in Länder, in denen Diphtherie noch regelmäßig auftritt, sind Anlass für eine Auffrischung. Ein aktueller Impfschutz kann dort entscheidend sein, um sich selbst und andere vor einer Ansteckung zu bewahren. Und schließlich sind Booster oder sogar eine komplette Nachholung der Grundimmunisierung wichtig für all jene, deren Impfstatus unklar oder unvollständig ist – eine Maßnahme, die individuelle Schutzlücken zuverlässig schließt.
Doch zurück zur allgemeinen Boosterung. Die Weltgesundheitsorganisation hat längst Konsequenzen gezogen. Seit 2017 empfiehlt sie keine routinemäßigen Erwachsenen-Booster mehr, falls Menschen in ihrer Kindheit eine vollständige Grundimmunisierung erhalten haben. Die US-amerikanischen Centers für Disease Control and Prevention (CDC) halten dagegen unbeirrt am Zehn-Jahres-Takt fest – obwohl das Programm Milliarden verschlingt.
Und Deutschland? Die Ständige Impfkommission (STIKO) am Robert Koch-Institut rät weiterhin zu Auffrischungen im Zehn-Jahres-Abstand, meist als Kombinationsimpfung mit Pertussis. Damit folgt Deutschland der amerikanischen Linie, nicht der WHO. Die Begründung lautet Vorsicht: Ein möglicher Immunitätsverlust im Alter und die Gefahr von Diphtherie-Ausbrüchen durch eingeschleppten Erreger.
Genau hier entzündet sich die Kontroverse. Kritiker werfen der STIKO und den CDC vor, mit dem Festhalten am Zehn-Jahres-Booster wissenschaftliche Erkenntnisse zu ignorieren und Ressourcen zu verschwenden. „Die außergewöhnlich seltenen Todesfälle durch Tetanus oder Diphtherie sind nicht auf ein Impfversagen zurückzuführen, sondern fast ausschließlich auf ein Versäumnis der Grundimmunisierung“, schreiben die Autoren. Mit anderen Worten: Entscheidend ist die korrekte Grundimmunisierung – nicht die Auffrischung alle zehn Jahre.
Befürworter der bestehenden Regelung sehen das anders. Sie argumentieren, dass Impfprogramme nicht nur biologischen Schutz vermitteln, sondern auch gesellschaftliches Vertrauen sichern. Ein sichtbarer, wiederkehrender Impftermin könne Menschen daran erinnern, überhaupt geimpft zu bleiben – und somit indirekt den Schutz stärken. Aus Public-Health-Sicht sei Vorsicht besser als Nachsicht, gerade in Zeiten wachsender Impfskepsis.
Damit steht Deutschland vor einer schwierigen Wahl. Folgt die STIKO theoretisch der WHO und verzichtet auf routinemäßige Booster, könnte das System effizienter und kostengünstiger werden – gleichzeitig aber auch den Eindruck erwecken, dass eine seit Jahrzehnten etablierte Praxis plötzlich „unsinnig“ sei. Bleibt es bei der Zehn-Jahres-Regel, riskiert sie, in den Augen der wissenschaftlichen Community als rückständig oder übervorsichtig zu gelten.
Die Frage ist aber nicht nur medizinisch, sondern politisch. Es geht um die Balance zwischen Sicherheit und Übervorsicht, zwischen Kosten und Vertrauen. Die Datenlage spricht klar gegen die Notwendigkeit routinemäßiger Auffrischungen. Doch ob sich das in einer Zeit wachsender Skepsis gegenüber Impfungen politisch durchsetzen lässt, darf bezweifelt werden.
Das Wichtigste auf einen Blick
Quelle
Slifka et al.: Lessons learned from successful implementation of tetanus and diphtheria vaccination programs. Clin Microbiol Rev, 2025. doi: 10.1128/cmr.00031-25.
Bildquelle: Raghavendra V. Konkathi, Unsplash