Die Leitstelle ist Dreh- und Angelpunkt unserer Arbeit im Rettungswesen. Ohne sie sind wir eine Schlange ohne Kopf: blind und unkoordiniert. Chronik einer Nacht, in der das System versagte.
Es war gegen Mitternacht in einer kalten Nacht im November 2011. Der First Responder kniete auf kaltem Linoleum, das Knie schmerzte, doch er spürte es kaum. Vor ihm lag ein Mann, vielleicht Anfang fünfzig, seine Haut fahl wie Pergament. Die Augen waren halb geöffnet, sahen aus wie Glas, und das Bein war grotesk gedreht, als hätte ihn mitten in einer Bewegung der Tod erwischt.
Schweiß rann dem Helfer über Stirn und Nacken, bildete eine Spur entlang der Wirbelsäule. Er hatte den Mann unter höchster Anstrengung aus dem Bett gehoben, was bei dessen fehlendem Muskeltonus ein schwieriges Unterfangen war. Dann presste er rhythmisch auf den Brustkorb, über hundertmal pro Minute, fünf bis sechs Zentimeter tief – das dumpfe Knacken brechender Rippen hallte durch den Raum, mischte sich in den erstickten Schluchzer der Ehefrau, die neben der Tür zusammengesunken war.
„Warum zur Hölle kommt niemand?“, stieß sie hervor. Ihre Stimme dünn wie ein Flüstern, kaum hörbar über der monotonen Anweisung des Defibrillators: „Kein Schock empfohlen. Wenn kein Puls, Wiederbelebung starten.“ Der Helfer sah auf sein Funkgerät, das seit Minuten neben ihm lag und doch keinen Ton von sich gab – kein Rauschen, kein Knacken. „Wo bleiben die?“, dachte er ebenso, drückte erneut den Status null am Funkgerät und hörte wieder nichts. Was er bis dahin nicht wusste: Die Leitstelle war tot. Sie konnte niemanden mehr alarmieren.
Kurze Zeit zuvor hatten wir jemanden in die Ambulanz gebracht, der sich ordentlich einen angesoffen hatte. Seine wirren Worte brachten uns zum Lächeln. Ein wenig beneidete ich ihn, denn er durfte nun in einem gemütlichen Bett in der Klinik ausschlafen, während wir einen Einsatz nach dem anderen bekamen. Aber plötzlich erschien der Betrunkene wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben. Unser Funkgerät war still geworden. Kein Sprechwunsch wurde beantwortet, die Kanäle leer und ohne Trägerrauschen, als ob jemand den Stecker gezogen hätte. Die Stille, anfangs noch angenehm, wurde mit jeder Minute bedrückender und legte sich über die Nacht wie ein erstickender Mantel.
In jener Nacht erfuhren wir viel zu spät, dass unsere Leitstelle einen Totalausfall erlitten hatte – eine technische und organisatorische Katastrophe, die jeder Planung spottete. Sorgfältig auf dem Papier skizzierte Rückfallebenen erwiesen sich als Illusionen und verblassten wie Tinte in Wasser. Stell dir vor, dein Ehepartner liegt mit Schnappatmung vor dir auf dem Boden. Du brauchst Hilfe, tippst die 112 in dein Telefon – du hörst aber kein Freizeichen. Niemand hebt ab. Niemand kommt dir zur Hilfe. Dein Partner stirbt. Plötzlich wurde mir klar: Wir steuerten auf eine Katastrophe zu.
Ähnlich hilflos waren die Kollegen der Berliner Feuerwehr in der Silvesternacht zum Jahrtausendwechsel. Damals stand auf ihren Bildschirmen nur „PIPEDATEIEN geschlossen“, irgendwie kryptisch und zugleich verhängnisvoll. Zunächst fiel der Hauptrechner aus, die Zentrale des Feuerwehr-Informationssystems FIS-III. Innerhalb kürzester Zeit versagte auch der Backup-Rechner, der die erste Rettungslinie sein sollte. Doch der Softwarefehler, der die Pipedateien betraf, replizierte sich auch auf dem zweiten System und machte beide Rechner nutzlos. Panik brach aus. Man versuchte, auf die zweite Rückfallebene umzuschalten, ein älteres System namens FIS-II. Doch FIS-II war dem immer größer werdenden Ansturm von Notrufen nicht gewachsen.
Die Nadel-Drucker kamen nicht mehr hinterher, Faxgeräte blockierten aufgrund mechanischer Fehler, und so blieb nur der chaotische Versuch, Einsatzaufträge mittels Boten zwischen zwei Gebäuden hin und her zu transportieren. Dann erblindete die Leitstelle, als die Fahrzeugzustandsanzeige ebenfalls ihren Dienst versagte. Fahrzeuge standen bereit, konnten aber nicht alarmiert werden, während gleichzeitig mehrere Einheiten ziellos an Einsatzstellen fuhren, die längst versorgt waren oder sich als falscher Alarm entpuppten. Techniker liefen zwischen blinkenden Servern und schweigenden Bildschirmen umher, unfähig, die Kette aus Fehlern zu durchbrechen. Auch damals zeigte sich: Die Technik, der wir blind vertrauen, kann zur tödlichen Falle werden.
Nun, ein Jahrzehnt später, wiederholte sich das Desaster. In anderer Stadt, unter anderen Umständen, aber mit der gleichen Konsequenz. In unserer Leitstelle herrschte inzwischen ebenfalls Chaos. Ein kurzer Lastenwechsel an der unterbrechungsfreien Stromversorgung hatte das System ausgepustet. Niemand konnte mehr alarmiert werden, niemand wusste, wer wo gebraucht wurde. Es war, als wären vier Landkreise, die durch diese Leitstelle bedient wurden, aus den Fugen geraten.
In unserem Landkreis machten wir es wie damals: Alle Rettungswagen begaben sich auf Streife. Wir erstellten einen Plan, welcher Rettungswagen in welchem Viertel unterwegs sein sollte. Einer unserer Wachleiter übernahm die Besetzung der Rettungswache, falls jemand direkt dorthin kam. Über unsere privaten Handys blieben wir in Kontakt. Auch die Polizei hatte mittlerweile vom Ausfall mitbekommen. Wir hinterließen der Inspektion unsere Handynummern und teilten auch mit, in welchem Eck wir uns befanden. Die Polizei, die mittlerweile auch Radiomeldungen veranlasst hatte, vermittelte Patienten direkt über Telefon an uns. Einige Patienten suchten das Krankenhaus selbst auf oder ließen sich vom Nachbarn hinfahren. Und so lief es holprig, aber es lief.
Der First Responder wählte immer und immer wieder die 112. Er hörte nur das monotone Rauschen einer Leere, die sich ihm wie eine Antwort offenbarte. Der Helfer blickte auf den reglosen Mann unter seinen Händen, fühlte seine Kräfte schwinden – und drückte doch weiter in dem Wissen, dass er allein und zurückgeworfen auf elementare Hilfe war und niemand eintreffen würde. Als aber schließlich nach sechzig Minuten Blaulichter in der Dunkelheit auftauchten, waren seine Hände taub, sein Rücken ein einziger Hartspann und die Hoffnung gänzlich erschöpft. Die eingetroffenen Sanitäter sahen sofort, dass es zu spät war. Ihre Blicke tauschten wortlose Entschuldigungen aus, ein stummes Eingeständnis, dass die Technik, die sie unterstützen sollte, sie diesmal im Stich gelassen hatte.
Murphys Gesetz, oft belächelt, hatte in dieser Nacht sein hartes Spiel perfekt inszeniert: Alles, was schiefgehen konnte, war in der schlimmstmöglichen Reihenfolge schiefgegangen. Berlin, damals – und nun wir, 2011, erfuhren am eigenen Leib, dass die Realität keine Rücksicht auf Katastrophenpläne nimmt.Gegen halb vier erwachten die Systeme schließlich wieder aus ihrer digitalen Ohnmacht. Funksprüche rauschten über den Äther, Einsätze wurden disponiert, als sei nichts gewesen.
Doch das Gefühl von Normalität war trügerisch und die bittere Erkenntnis blieb: Unser Sicherheitsnetz ist dünner, als wir glauben – gewoben aus den brüchigen Fäden menschlicher Unzulänglichkeiten, Sparmaßnahmen und falscher Zuversicht. Die Stille dieser Nacht fraß sich wie Gift in das Sicherheitsgefühl derer, denen wir nicht helfen konnten. Denn am Ende ist es nicht das Versagen der Technik, das uns bedroht – sondern unser Glaube an ihre Unfehlbarkeit.
Bildquelle: Mahdi Bafande, Unsplash