Motorische Entäußerung, verdrehte Augen, manchmal sogar ein Schrei: Dissoziative Krampfanfälle wirken auf den ersten Blick wie Epilepsie – doch oft ist die Ursache psychischer Natur. Was dahinter steckt und wie ihr sie erkennt.
Dissoziative Krampfanfälle – schon allein der Name sorgt oft für Fragezeichen. Während die meisten bei Anfällen gleich an Epilepsie denken, steckt hier etwas ganz anderes dahinter: immense seelische Not, die keinen anderen Ausweg mehr findet, als sich körperlich Ausdruck zu verschaffen. Hinter jedem dieser Anfälle steckt eine Geschichte, geprägt von Unsicherheit, Scham und der Suche nach Verständnis, die oft viel zu lange dauert.
Ich höre plötzlich einen lauten Schlag in der Praxis und renne ins Wartezimmer. Frau Müller liegt dort auf dem Boden, ihre Arme und Beine zucken unkoordiniert, der Kopf wirft sich immer wieder nach hinten, das Gesicht verzerrt. Die Situation wirkt dramatisch!
Die Szene erinnert an einen epileptischen Anfall, doch ein wichtiges Detail fehlt: Das Bewusstsein scheint nicht völlig weg zu sein, ab und zu blinzelt sie, eine Reaktion auf lautes Ansprechen ist leicht zu erahnen. Doch Frau Müller ist trotzdem nicht „da“ – sie ist in ihrer eigenen, verschlossenen Welt gefangen. Die Attacken gleichen epileptischen Anfällen fast aufs Haar: Motorische Entäußerung, verdrehte Augen, manchmal sogar ein Schrei. Jedoch sind die Betroffenen nach dem dissoziativen Krampfanfall meist schnell wieder orientiert – wenn auch erschöpft und oftmals sehr beschämt.
Dissoziative Krampfanfälle werden den funktionellen Störungen zugeordnet. Ihnen liegt weder ein Defekt noch eine Funktionseinschränkung des Gehirns zugrunde, sondern ein seelischer Druck, der sich plötzlich und unerwartet in Form eines Anfalls entlädt. Stress, unverarbeitete Erlebnisse, Traumata – der Körper schaltet in den Not-Aus-Modus. Für Betroffene wie Frau Müller ist das keine Show, kein bewusstes „Sich-aus-dem-Leben-Stehlen“, sondern brutale Realität, die sie nicht steuern kann.
Bis eine richtige Diagnose gestellt wird, vergehen im Schnitt sieben Jahre. In dieser Zeit erhalten viele Patienten oft für sie nicht wirksame Medikamente, werden von Arzt zu Arzt geschickt – und bekommen häufig das Gefühl, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Dabei liegt im genauen Hinschauen und Zuhören die Chance auf Erleichterung: Die Lebensgeschichte, die Gefühle von Überforderung, Angst oder eine verdrängte Vergangenheit – all das sind Hinweise, die erst verstanden werden wollen.
Wer genau hinsieht, erkennt schon im Anfall selbst kleine Unterschiede. Neben einer unauffälligen körperlichen Diagnostik gibt oft auch die Lebensgeschichte der Patienten einen weiteren Hinweis. Häufig finden sich Hinweise auf Depression, Angststörungen oder frühere Traumata. Es sind nicht „die Sensiblen“, sondern Menschen, die jahrelang funktioniert haben – bis die Seele irgendwann kapituliert.
Für Frau Müller war die Diagnose eine Art Erleichterung. Endlich hatte das Leiden einen Namen. Der Erfolg? Psychotherapie – am besten mit dem Fokus auf Stressregulation. Manchmal reichen schon Akzeptanz, Information und beziehungsorientierte Begleitung, um eine Veränderung einzuleiten. Antikonvulsiva bringen hingegen nichts.
Dissoziative Krampfanfälle sind ein Paradebeispiel dafür, wie eng Körper und Seele zusammenhängen. Was nach außen hin dramatisch wirkt, ist innerlich oft Ausdruck einer jahrzehntelang still ertragenen Last. Es braucht Geduld, Fingerspitzengefühl und Mut, genauer hinzusehen und vor allem zuzuhören. Denn jeder Anfall ist mehr als nur Symptom – er ist ein stiller Hilferuf nach Unterstützung und Menschlichkeit.
Bildquelle: Jørgen Håland, Unsplash