Im Notfall zählt jede Sekunde – aber selbst jetzt spielt es offenbar eine Rolle, WER behandelt. Denn bis heute regieren in der Medizin noch immer Titel und Tradition. Von Machtspielen und verpassten Chancen.
Ich stehe im Schockraum. Die Schiebetür schließt, das Licht ist grell, die Luft elektrisch. Wir bringen eine Patientin, deren Kreislauf nur noch am seidenen Faden hängt: septischer Schock, initialer Blutdruck 60 zu 30. Herzfrequenz wie das Stakkato eines Presslufthammers, die Haut grau, die Lippen tintenblau, jeder Atemzug ein Kampf. Es läuft Sauerstoff, zwei Zugänge fördern Ringeracetat, das Noradrenalin über den Perfusor hebt ihren Blutdruck ins Leben zurück. Jede Minute und jeder Handgriff zählen – jede Zeitverzögerung wäre ein Schritt näher zum Abgrund. „Ruhe bitte, Übergabe!“
Doch der erste Satz der Schockraumleitung gilt nicht der Patientin oder ihrer Versorgung. Augen heften sich an mein Namensschild, unter dem „Notfallsanitäter“ steht. Die Insignien der Superkompetenz vor meinem Namen fehlen. Entrüstung macht sich breit. „Wo ist der Notarzt?“ Arme werden verschränkt. Eine Augenbraue wandert nach oben. Zwei Kollegen im Kittel nicken synchron, murmeln etwas Abfälliges, das wie „nicht-ärztliches Personal“ klingt. Es kam nicht: Was hat die Patientin? Was habt ihr schon getan? Sondern: Gibt es jemanden auf Augenhöhe?
Ich merke, wie die Venen an meiner Stirn anschwellen und unterdrücke meine Wut. Aber die Diskussion geht weiter: „Wie kommt ihr dazu, so etwas ohne Notarzt herzufahren? Das geht so nicht.“ – „Der Notarzt hätte 30 Minuten gebraucht. Wir hatten keine Zeit zu warten.“ – „Ja, aber das geht nicht.“ Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens legitimiert die Ärztin für sich im Geiste nun scheinbar mein Handeln. Nicht, weil sie die Maßnahmen gutheißt, sondern weil der Mythos der ärztlichen Allmacht für einen Moment ins Wanken gerät.
Willkommen im deutschen Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts. Noch immer entscheiden nicht Kompetenz, Notwendigkeit oder Ergebnis – sondern Standesdünkel, Sprachregelungen und Besitzstandsangst. Die Zeiten haben sich mit § 2a NotSanG zwar gravierend verändert, die Köpfe vieler Ärzte und Funktionäre sind allerdings im letzten Jahrhundert stehen geblieben.
Wer alltäglich in den Kliniken, im Rettungsdienst oder in der Pflege unterwegs ist, weiß: Die Schmonzette vom allmächtigen, allwissenden Arzt ist zwar so zäh wie ein alter Kaugummi – aber nicht wahrer geworden. Notfallsanitäter führen bereits vor Inkrafttreten des § 2a NotSanG heilkundliche Maßnahmen eigenverantwortlich durch, Pflegefachpersonen übernehmen längst gesetzlich exklusive Aufgaben und eine weitere Gesetzesänderung für die Pflege ist schon in der Pipeline: Ab dem 01.01.2026 wird es Pflegefachpersonen erlaubt sein, eigenständig und im Rahmen ihrer erlernten Fähigkeiten Heilkunde auszuüben, sofern das Gesetz durchgewunken wird.
All das ist im Alltag ohnehin längst Realität. Im Diskurs ist all das jedoch immer noch nicht wichtig genug, um nicht mehr nur mit dem Terminus „nicht-ärztlich“ abgestempelt zu werden. Das entspricht einer interprofessionellen Bankrotterklärung und zeigt: Wertschätzung ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Gnadenakt – und oft nicht einmal das.
Es ist bequem, das eigene System auf klaren Hierarchien aufzubauen. Wer „nichtärztlich“ ist, bleibt unsichtbar. Die Folge: Pflegefachpersonen, Notfallsanitäter und medizinisch-technische Fachkräfte, die mit höchster Fachkompetenz arbeiten, werden auf ewige Assistenzen reduziert. Wer als „Helfer des Arztes“ tituliert wird, hat eben keinen Anspruch auf Selbstständigkeit, Augenhöhe oder gar Mitgestaltung.
Selbst die von ärztlichen Gremien konstruierte Berufsbezeichnung „Rettungsassistent“ hatte die Inkompetenz bereits mit eingebaut, bis das Notfallsanitätergesetz die Eigenverantwortung gesetzlich festschrieb. Der Umgang der ÄLRD mit Notfallsanitätern tut sein Übriges dazu – er vermittelt dem Notfallsanitäter, er dürfe ohne Arzt zunächst mal gar nichts und ist von der Gnade erteilter Delegationen abhängig, die überhaupt niemand mehr benötigt. In einem Konfliktgespräch hat man mir witzigerweise mal erklärt, dass „eigenständig“ schließlich nicht „eigenverantwortlich“ bedeute und der ÄLRD die Anordnungsverantwortung hierfür trage. Nur blöd, dass der Duden da ganz anderer Meinung ist.
Doch was nützt das beste Gesetz, wenn die Praxis, wie ich sie im Schockraum erlebt habe, weiterhin vermittelt: „Ihr seid halt keine Ärzte.“ Die Realität: Viele Ärzte sind fachlich und praktisch längst nicht mehr qualifiziert, die Kompetenzen anderer Heilberufe und auch die Rechtslage um diese herum zu beurteilen. Das ist keine Polemik, sondern lässt sich an der täglichen Praxis belegen – so wie dies im Schockraum besagten Krankenhauses passiert ist. Und ich könnte aus dem Stegreif zwanzig ähnliche Situationen aus dem Ärmel schütteln.
Die Blockadehaltung der Ärzteschaft gefährdet die Patientensicherheit.Sie hält Reformen auf, die längst Standard sein müssten.Sie degradiert hoch qualifizierte Heilberufler zu Statisten.Sie vergiftet das Klima interprofessioneller Zusammenarbeit.
Was wäre, wenn das nächste Mal die Schiebetür des Schockraums aufgeht, und niemand fragt, wer der Arzt ist, sondern die Tatsachen akzeptiert werden? Wenn Notfallsanitäter und Aufnahmearzt sich kurz zunicken, die Pflegefachperson mit einem Blick erkennt, was fehlt, und der Patient nicht merkt, wer wofür zuständig ist, weil einfach alles läuft? Dann, und nur dann, haben wir verstanden, worum es im Gesundheitswesen wirklich geht: um Zusammenarbeit, Vertrauen und um den Menschen im Mittelpunkt.
Und wie tief diese Einstellung in die Wirklichkeit tropft, merkt man immer dann, wenn es um Veränderung geht. Wer einmal die Kreise der ärztlichen Gremien betritt, lernt rasch: Hier werden nicht Patienten versorgt, sondern Einfluss gesichert. Kompetenzen werden wie Trophäen verteidigt, statt sie zu teilen.
Am sichtbarsten ist das beim „Facharzt Notfallmedizin“: In 23 von 27 EU-Ländern Standard – in Deutschland blockiert von einer Funktionärselite, die Wissenschaft als Dekoration nutzt, aber nie als Richtschnur. Selbst als eine Mitgliederbefragung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) für den Facharzt ausfällt, wird das Ergebnis scheinbar so lange umgedeutet, bis es ins eigene Weltbild passt. Die Realität draußen? Die interessiert in diesen Zirkeln nur, solange sie in die Besitzstandlogik passt.
Dass es auch anders geht, zeigt Dr. med. Janosch Dahmen. Arzt, Notfallmediziner, Bundestagsabgeordneter. Und einer, der die Misere nicht länger mittragen will. Sein Austritt aus der DIVI ist mehr als ein Symbol. Er benennt das Systemversagen scharf wie ein Skalpell: Nicht Evidenz oder Patientensicherheit entscheiden, sondern Machtkalkül. Die Fachgesellschaft blockiert den Fortschritt, ignoriert internationale Standards, lügt sich die Ergebnisse der eigenen Befragung schön.
„Mit Ihrer jetzigen Position verliert die DIVI aus meiner Sicht endgültig den Anschluss an den internationalen Stand der Wissenschaft und an die zukünftigen Erfordernisse einer modernen Notfallversorgung in Deutschland. Eine notfallmedizinische Fachgesellschaft, die sich nicht als Motor, sondern als Bremse für die Einführung eines Facharztes versteht, verfehlt ihre eigene Daseinsberechtigung“ so Dahmen.
Dahmens Schritt ist ein Signal: Wer weiter die Zukunft blockiert, riskiert, abgehängt und irrelevant zu werden. Sowohl Politik als auch Gesetzgeber und internationale Vergleichsstudien sind längst weiter. Die Zeit der Selbstverwaltung um jeden Preis läuft ab. Es beginnt die Zeit der Augenhöhe – ob man will oder nicht.
Die ewige Selbstverteidigung ärztlicher Deutungshoheit hat fatale Folgen: Sie züchtet einen Nachwuchs, der das System verlässt, weil Respekt und Entwicklungsperspektiven fehlen. Sie blockiert Reformen, weil jede Veränderung Besitzstände bedroht. Sie sorgt dafür, dass im entscheidenden Moment oft nicht die besten, sondern die formal richtigen Hände am Patienten sind. Während draußen Realität und Gesetz die Veränderungen längst vorleben, bleibt das Verhalten der Ärzteschaft ein Anker im Sumpf der Vergangenheit.
Fakt ist: Wer Heilberufe und die neue gesetzliche Lage nicht anerkennt, schafft eine Wirklichkeit der Abwertung. Wer Reformen blockiert, schafft eine Wirklichkeit der Stagnation. Und wer die eigene Macht über die Vernunft stellt, schafft eine Wirklichkeit, in der am Ende Patienten verlieren.
Das Summen der Perfusoren ist verklungen, der Monitor piept, als zähle er die Sekunden zurück ins Leben. Die Lippen der Patientin sind nicht mehr tintenblau, sondern blassrosa. Ihr Blick, kurz verloren, findet wieder den Rand dieser Welt. Im Schockraum riecht es nach allem, was bleibt, wenn ein Sturm abzieht. Niemand klatscht. Kein Orden, keine Gratulation. Nur ein Nicken. Ein Schatten von Respekt, der an der Neonröhre zerbricht. Die Diskussion verstummt, als die Sonne sich langsam durch das Milchglasfenster stiehlt, eine goldene Ader auf dem Boden zieht und dem Tag ein Versprechen macht. Die Standesgrenzen? Plötzlich farblos wie Kreide, die der erste Regen fort wäscht. Ich gehe hinaus. Das Licht ist weich, draußen klingt die Stadt wie das Meer, in dem alles weitergeht, ob wir es merken oder nicht. Vielleicht begreift es irgendwann auch der letzte Schockraum im Land:
Es geht nicht darum, WER heilt.Es geht darum, DASS wir heilen.
Bildquelle: Getty Images, Unsplash