Über den Umgang mit ersten Todeserfahrungen in der Pflege und warum emotionale Reaktionen keine Schwäche sind
Es war der erste Unterrichtstag nach dem Praxisblock. Ich sah es Anna, 18 Jahre, sofort an - sie war anders. Verschlossener, unsicherer. Als wir in der Reflexionsrunde über ihre Praxiserfahrungen sprachen, erzählte sie stockend vor der ganzen Klasse, was passiert war.
Anna hatte ihren ersten Praxiseinsatz auf einer internistischen Station. Zweite Woche, morgens um 7 Uhr. Sie sollte bei der Grundpflege helfen und ging zu Herrn Schmidt, 78 Jahre, mit dem sie am Tag zuvor noch über seine Enkelkinder gesprochen hatte. Sie klopfte, keine Antwort. Sie öffnete die Tür und fand ihn tot in seinem Bett. Ihr erster Impuls war richtig: Sie ging sofort auf den Gang und rief nach einer Pflegefachkraft. Das Team kam, übernahm die Situation professionell. Soweit alles gut.
Aber dann, eine Stunde später, als Anna ihren Mitschülerinnen von dem Vorfall erzählte, kamen ihr die Tränen. Es war ihr erster Todesfall. Herr Schmidt war ihr in den wenigen Tagen ans Herz gewachsen. Sie weinte nicht hysterisch, sie war einfach betroffen.
Die Reaktion einer erfahrenen Pflegefachkraft: "Was, deswegen musst du weinen? Da musst du aber schnell durch und dir ein dickeres Fell anziehen, da bist du ja ein Sensibelchen!"
Während Anna das erzählte, sah ich in die Gesichter ihrer Mitschüler. Einige nickten verständnisvoll - sie hatten wohl Ähnliches erlebt. Andere schauten betreten zu Boden. Die Botschaft war angekommen: Emotionen sind unprofessionell.
In diesem Moment stand ich vor einem Dilemma, das jede Lehrerin in der Pflegeausbildung kennt: Wie reagiere ich auf so eine Situation? Einerseits wollte ich Anna stärken und ihr zeigen, dass ihre Reaktion völlig normal war. Andererseits musste ich auch ehrlich sein - sie wird in der Praxis noch öfter auf solche Haltungen treffen. Als Anna ihre Geschichte beendet hatte, herrschte betretenes Schweigen im Klassenzimmer. Ich spürte, wie wichtig meine nächsten Worte sein würden - nicht nur für Anna, sondern für die ganze Klasse.
"Anna", sagte ich, "ich habe eine Frage. Waren Sie nach Herrn Schmidts Tod noch in der Lage zu arbeiten?" Sie nickte. "Haben Sie Ihre anderen Patienten vernachlässigt?" Sie schüttelte den Kopf. "Dann waren Sie professionell. Tränen machen Sie nicht unprofessionell - sie machen Sie menschlich."
"Du musst dir ein dickeres Fell anziehen" - dieser Satz verfolgt mich seit Jahrzehnten. Ich habe ihn selbst als junge Pflegekraft gehört. Ich habe ihn leider auch selbst schon gesagt, bevor ich begriffen habe, was er anrichtet.
Was steckt dahinter? Die Annahme, dass emotionale Reaktionen unprofessionell sind. Dass Tränen Schwäche bedeuten. Dass "gute" Pflegekräfte wie Roboter funktionieren - technisch versiert, aber emotional unberührt. Und was ist mit "Abstumpfen"?
"Wenn du bei jedem Tod weinst, hältst du das nicht aus", so die Logik. Und oberflächlich betrachtet, stimmt das sogar. Pflegekräfte erleben regelmäßig Verlust, Leid, Tod. Wer sich emotional nicht schützt, brennt aus. Aber ist emotionale Abstumpfung wirklich der richtige Weg?
In meiner Praxis sehe ich, was passiert, wenn Menschen ihre Gefühle systematisch unterdrücken. Sie verlieren nicht nur die Fähigkeit zu trauern - sie verlieren auch die Fähigkeit zur echten Verbindung, zur Freude, zur Lebendigkeit - und genau das passiert in der Pflege auch. Wir züchten eine Generation von Pflegekräften heran, die zwar funktionieren, aber den Bezug zu dem verloren haben, was ihren Beruf eigentlich ausmacht: die menschliche Verbindung.
Dann wandte ich mich an die ganze Klasse: "Was hätte die Pflegefachkraft zu Anna sagen können, das hilfreicher gewesen wäre?"
Die ersten Antworten kamen zögerlich:
"Genau", sagte ich. "Und dann hätte sie mit Ihnen reflektieren können: Was hat Sie besonders berührt? Wie könnten Sie künftig mit solchen Situationen umgehen? Wie sorgen Sie für sich selbst nach einem solchen Erlebnis?" Ein weiterer Schüler meldete sich: "Aber die Kollegin hat doch Recht. Wenn wir bei jedem Tod weinen, halten wir das nicht aus."
"Stimmt", antwortete ich. "Aber Anna hat nicht bei jedem Tod geweint. Sie hat bei ihrem ersten Todesfall geweint, bei einem Patienten, der ihr ans Herz gewachsen war. Das ist völlig normal und gesund."
Sarah meldete sich: "Aber wie unterscheide ich dann zwischen normaler Trauer und... zu viel Emotion?"
"Lassen Sie uns das gemeinsam erarbeiten", schlug ich vor. "Wann wäre eine emotionale Reaktion problematisch?"
Die Antworten kamen jetzt lebhafter:
"Genau. Und war das bei Anna der Fall?" Kopfschütteln in der Runde.
"Anna", wandte ich mich wieder an sie, "was denken Sie denn jetzt über sich selbst?"
"Ich dachte, ich bin nicht stark genug für die Pflege. Aber... vielleicht ist es ja normal?"
"Es ist nicht nur normal", antwortete ich, "es ist ein Zeichen dafür, dass Sie den Menschen in Ihren Patienten sehen."
In den folgenden Wochen sprachen die Schüler offener über schwierige Situationen. Aber ich sehe auch die Gefahr: Jemand berichtete stolz, er habe nicht mehr geweint, als eine Patientin starb. "Ich bin stärker geworden." Das beunruhigte mich - Kevin hatte gelernt, nicht zu fühlen, statt mit seinen Gefühlen umzugehen.