Eigentlich aus Asien, werden auch in Deutschland immer häufiger Infektionen mit dem Seoulvirus nachgewiesen – wenn man denn weiß, bei wem man danach suchen muss. Welche Rolle Ratten als Haustiere spielen und was Wissenschaftler sich von Ärzten wünschen.
Der Name deutet es bereits an: Das Seoulvirus ist hauptsächlich in Asien endemisch, wo Infektionen beim Menschen keine Seltenheit sind und es immer wieder zu lokalen Ausbrüchen kommt. In Europa dagegen wird das zu den Hantaviren zählende Virus allenfalls sporadisch diagnostiziert.
In Deutschland wurde erst 2020 der erste Fall einer autochthonen, also im Land selbst erworbenen Seoulvirus-Infektion publiziert. „Wie in Asien wurde der Erreger auch hier über Ratten übertragen“, berichtet Prof. Jörg Hofmann, Leiter des Nationalen Konsiliarlabors für Hantaviren an der Berliner Charité, der gemeinsam mit Kollegen den damaligen Fall diagnostizierte und darüber in der Fachzeitschrift Emerging Infectious Diseases berichtete. Bei dieser ersten – wie auch bei vier weiteren im Jahr 2022 aufgetretenen Infektionen – ließ sich das Virus auf Farbratten zurückverfolgen, die von den betroffenen Personen als Haustiere gehalten wurden.
Bis heute ist die Zahl bekannter Seoulvirus-Infektionen in Deutschland erst auf 10 angestiegen. Vermutlich zeichnet diese geringe Zahl jedoch kein realistisches Bild des tatsächlichen Infektionsgeschehens: „Ich gehe davon aus, dass das Virus hier deutlich weiter verbreitet ist, als wir bisher annehmen“, so Hofmann. Um das zu verifizieren, müssten allerdings flächendeckende Surveillance-Untersuchungen durchgeführt werden – und das möglichst in mehreren europäischen Ländern.
Hantavirus-Infektionen sind Zoonosen, die sich üblicherweise über Nagetiere verbreiten und über Kontakt mit deren Exkrementen auf den Menschen übertragen werden. In Europa am häufigsten sind Infektionen mit Puumala- oder Dobrava-Belgrad-Viren. Diese sind stark mit Rötelmäusen assoziiert und infizieren den Menschen oft über die Atemwege. Ein klassisches Infektionsszenario ist das Ausfegen von Dachboden, Keller oder Schuppen, wobei getrocknete Mäuseexkremente aufgewirbelt und eingeatmet werden. Beim Seoulvirus sind Ratten als wichtigstes Reservoir identifiziert worden – allen voran die Wanderratte (Rattus norvegicus), aber auch Laborratten, Ratten, die als Reptilienfutter gezüchtet werden und eben die als Haustiere gehaltenen Farbratten. Sie alle sind weltweit verbreitet, sodass auch außerhalb der Ursprungsländer prinzipiell mit Seoulvirus-Infektionen zu rechnen ist. Warum also sind solche Infektionen bisher kaum bekannt?
Hinweise darauf, dass es durchaus eine „stille“ Verbreitung der Seoulviren außerhalb Asiens gibt, liefert die genetische Analyse der Viren, die Hofmann und sein Berliner Team im Rahmen ihrer Untersuchungen vornahmen. Sie belegt eine enge Verwandtschaft mit Viren aus Frankreich, den Niederlanden und sogar den USA, die ebenfalls aus Zuchtratten isoliert wurden. „Das deutet darauf hin, dass Zuchtratten intensiv zwischen benachbarten europäischen Ländern und sogar zwischen Europa und den USA gehandelt und ausgetauscht werden“, so Hofmann, und mit ihnen auch die Viren, die den Ratten selbst nichts anhaben können. Mit Seoulviren aus Wildratten gab es dagegen nur geringe Übereinstimmungen.
Die Vermutung, dass Seoulvirus-Infektionen in der westlichen Welt mit einer hohen Dunkelziffer behaftet sind, leitet der Virologe auch aus der gängigen diagnostischen Praxis ab. Infektionen mit verschiedenen Hantaviren führen allesamt zum Krankheitsbild des hämorrhagischen Fiebers: Die Betroffenen leiden unter Fieber und Schüttelfrost, einem ausgeprägten Krankheitsgefühl, Muskelschmerzen und Übelkeit. Oft werden auch die Nieren angegriffen, die glomeruläre Filtrationsrate sinkt und es kommt zu Proteinurie und Mikrohämaturie. Typisch ist auch eine Thrombozytopenie und damit eine verstärkte Blutungsneigung.
Weil sich nicht nur die Krankheitssymptome, sondern auch die viralen Antigene stark ähneln, kommt es auch bei der serologischen Testung zu einer hohen Kreuzreaktivität: Wer mit einem Hantavirus infiziert ist, bei dem schlägt meist auch der Test auf ein anderes Hantavirus an. „Im Grunde wird dann einfach generell eine Hantavirus-Infektion diagnostiziert – und in Europa schnell als Puumala- oder Dobrava-Belgrad-Infektion interpretiert“, erläutert Hofmann. Erst durch eine weiterführende molekulare Diagnostik könnten diese Infektionen von einer Seoulvirus-Infektion unterschieden werden. In der Regel unterbleibe diese aufwändige Analyse aber.
Für die Therapie der Patienten ist die Typisierung zwar ohne Belang – in Ermangelung Hanta-spezifischer antiviraler Medikamente beschränkt die Behandlung sich im Wesentlichen auf die Linderung der Krankheitssymptome. Aus epidemiologischer Sicht wäre es jedoch wichtig zu wissen, auf welchen Wegen und über welche Reservoirtiere eine Infektion stattgefunden hat. „Auf jeden Fall sollte bei Hantavirus-Symptomen auch der Kontakt zu Ratten erfragt werden“, sagt Hofmann deshalb. Sollte sich ein solcher in der Anamnese finden, sei eine molekulare Diagnostik unverzichtbar.
Letztlich sei die genaue Bestimmung des verantwortlichen Virus auch für die korrekte Meldung der allesamt meldepflichtigen Hantavirus-Erkrankungen erforderlich: „Sind Zuchtratten als Infektionsquelle bekannt, muss nicht nur das Gesundheits-, sondern auch das zuständige Veterinäramt informiert werden“, betont Hofmann.
Umgekehrt sollten aber auch die Gesundheitsrisiken, die von Farb-, Futter- oder Laborratten ausgehen, anerkannt und besser kommuniziert werden. Immerhin hätten von den ersten zehn in Deutschland bekannt gewordenen Seoulvirus-Betroffenen sieben hospitalisiert werden müssen. Eine Frau allerdings, die als Partnerin eines Betroffenen ebenfalls getestet wurde, wies zwar Antikörper gegen das Virus auf, hatte die Infektion aber offenbar symptomlos überstanden.
„Aus Asien wissen wir, dass das Seoulvirus im Vergleich zu anderen dort heimischen Hantaviren häufiger zu milden Krankheitsverläufen führt“, betont Hofmann. Solche unauffälligen Verläufe sind ein weiterer Grund für die Annahme, dass die Dunkelziffer die Zahl der registrierten Seoulvirus-Infektionen hierzulande deutlich übersteigen dürfte.
Quellen
Hofmann et al.: Autochthonous Ratborne Seoul Virus Infection in Woman with Acute Kidney Injury, Emerging Infectious Diseases, 2020. doi: https://doi.org/10.3201/eid2612.200708
Hofmann et al.: Hantavirus Disease Cluster Caused by Seoul virus, Germany, Emerging Infectious Diseases, 2024. doi: https://doi.org/10.3201/eid3001.230855
Bildquelle: Nikolett Emmert, Unsplash