Als Psychologin, Ethikerin und Pflegefachkraft stehe ich täglich vor diesem Paradox: Empathie gilt als Grundstein ethischen Handelns in der Pflege, aber wenn ich nachfrage, was das praktisch bedeutet, wird es dünn. Sehr dünn sogar. "Na ja, man soll sich in den Patienten hineinversetzen", kommt dann meist. Oder: "Man muss mitfühlen können."
Aber ist das wirklich alles? Und vor allem: Ist das hilfreich für eine 19-jährige Auszubildende, die zum ersten Mal einem sterbenden Menschen begegnet?
In meinem Unterricht erlebe ich immer wieder diese Momente der Ratlosigkeit. Da sitzen angehende Pflegekräfte, die lernen sollen, "empathisch" zu sein, aber es ist leider wenig Zeit zu erklären, wie sie mit der emotionalen Last umgehen, die das mit sich bringt. Wir sprechen über die vier ethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress, aber vergessen zu erwähnen, dass im Pflegealltag oft keine Zeit für lange ethische Reflexionen bleibt. Ein Beispiel aus dem letzten Unterricht: Lisa, eine meiner Schülerinnen, kam nach ihrem ersten Praxiseinsatz völlig aufgelöst zu mir. "Ich soll empathisch sein, aber wenn ich das bin, geht es mir schlecht. Wenn ich mich abgrenze, bin ich kalt. Wie soll das gehen?"
Oder die Situation bei einer Schulaufgabe, als Tom schrieb: "In der Situation würde ich empathisch reagieren." Fertig. Als ich nachfragte, was das konkret bedeute, kam nur: "Na ja, halt empathisch eben." Seit Jahren lasse ich in Leistungsnachweisen das Wort "Empathie" nicht mehr als eigenständige Antwort gelten. Stattdessen verlange ich konkrete Handlungsschritte: "Wie genau würden Sie mit dem Patienten sprechen? Formulieren Sie eine empathische Antwort. Welche Fragen würden Sie stellen? An welchen Symptomen würden Sie Ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und erkennen?"
Diese scheinbar kleine Änderung hat viel verändert. Plötzlich müssen sich die Lernenden wirklich Gedanken machen, anstatt sich hinter einem schönen Begriff zu verstecken. Diese Frage treibt mich um. Wir bilden junge Menschen aus, aber geben ihnen wenig Werkzeuge mit, um mit den emotionalen und ethischen Herausforderungen ihres Berufs umzugehen.
Hier liegt das Problem: Empathie wird oft als natürliche Gabe dargestellt, die man entweder hat oder nicht. In Wahrheit ist sie eine komplexe Fähigkeit, die verschiedene Komponenten hat und gelernt werden kann - und muss. Es gibt die kognitive Empathie - das Verstehen der Perspektive des anderen. Dann die emotionale Empathie - das Mitfühlen. Und schließlich die mitfühlende Empathie - das Handeln aus diesem Verständnis heraus, ohne dabei selbst unterzugehen.
Aber das erklärt niemand den Auszubildenden. Stattdessen hören sie: "Seid empathisch" und stehen dann hilflos da, wenn sie emotional überfordert sind oder sich ausgenutzt fühlen.
In den meisten Ausbildungen läuft es so:
Ein paar Vorlesungen über Kommunikationstheorien.
Rollenspiele mit Schauspielpatient:innen.
Dann: „Jetzt bitte empathisch im Stationsalltag.“
Das Problem: Empathie ist kein Knopf, den man an- und ausschaltet.Sie besteht aus drei Ebenen:
Kognitiv: Ich verstehe, was der andere fühlt.
Emotional: Ich fühle mit.
Praktisch: Ich reagiere so, dass es hilfreich ist.
Unterrichtet wird oft nur Ebene 1 (Techniken, Gesprächsregeln).Die eigentliche Arbeit passiert auf Ebene 2 und 3 – und das ist Erfahrungslernen.
Wie man Empathie wirklich lernt:
Durch Reflexion eigener Erfahrungen: „Wie hätte ich mich gefühlt?“
Durch Feedback: Nicht nur von Dozierenden, sondern von Patient:innen und Kolleg:innen.
Durch Selbstschutz: Wer keine Grenzen setzt, brennt aus – und verliert Empathiefähigkeit.
Nach Jahren in der Lehre bin ich überzeugt: Wir brauchen einen anderen Ansatz. Ethik in der Pflegeausbildung muss praktisch, konkret und vor allem ehrlich sein.
Erstens: Echte Situationen besprechen. Nicht nur die Lehrbuch-Fälle, sondern die messy, komplizierte Situationen aus dem Alltag, Fälle, die die Lernenden aus der Praxis mitbringen. Letzte Woche haben wir einen Fall bearbeitet: Herr Müller, 82, mit Demenz, wehrt sich gegen die Körperpflege und schlägt um sich. Die Angehörigen verlangen, dass "alles getan wird". Die Kollegin sagt: "Dann fixieren wir ihn halt kurz." Als ich fragte: "Was würdet ihr jetzt empathisch machen?", kam zunächst Schweigen. Dann: "Mit ihm reden?" - "Gut, was würdet ihr sagen?" - Wieder Schweigen. Erst als wir konkret durchgespielt haben, wie ein solches Gespräch aussehen könnte, welche Alternativen es zur Fixierung gibt, wie man mit den Angehörigen umgeht, wurde es konstruktiv.
Zweitens: Werkzeuge vermitteln. In einer Übung lasse ich die Studierenden schwierige Gespräche nachspielen. Sarah sollte mit einer 45-jährigen Mutter ein Gespräch führen, dessen Kind möglicherweise nicht überleben wird. Ihr erster Impuls: "Ich würde empathisch sein und sie trösten." Als ich sie bat, das konkret zu zeigen, brach sie zusammen. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich bin doch auch noch so jung."
Das war der Durchbruch. Wir erarbeiteten gemeinsam: Wie sitze ich? Welche Worte verwende ich? Wie halte ich es aus, wenn jemand weint? Wie sorge ich danach für mich selbst?
Drittens: Die unbequemen Wahrheiten aussprechen. "Was macht ihr, wenn der Chefarzt sagt: 'Das machen wir so, auch wenn ihr es ethisch bedenklich findet'?" Diese Frage löst immer Unruhe aus. Dann erzähle ich von meiner eigenen Erfahrung: Wie ich als junge Pflegekraft einmal gegen mein Gewissen gehandelt habe, weil ich mich nicht getraut habe zu widersprechen. Und wie mich das jahrelang verfolgt hat. Plötzlich wird den Lernenden klar: Das System macht es ihnen nicht leicht, ethisch zu handeln. Aber das heißt nicht, dass sie aufgeben müssen.
Meine größte Lernerfahrung war, als Kevin, normalerweise der Stillste in der Klasse, plötzlich aufstand und sagte: "Das ist doch alles Quatsch mit der Empathie. Ich kann doch nicht jeden Tag mitheulen." Die anderen schauten erschrocken. Ich war dankbar für seine Ehrlichkeit. "Sie haben recht", sagte ich. "Mitheulen ist nicht empathisch. Es ist emotional unkontrolliert, doch manchmal nicht zu verhindern. Lass uns herausfinden, was wirklich hilft."
Seitdem arbeite ich mit konkreten Szenarien. Wenn ein Patient sagt: "Ich will sterben", dann üben wir nicht "empathische Reaktionen", sondern konkrete Antworten: "Das klingt, als ob Sie sehr müde sind. Mögen Sie mir erzählen, was Sie so denken lässt?" Oder: "Das muss sehr schwer für Sie sein. Haben Sie heute schon mit jemandem darüber gesprochen?"
Die Auszubildenden lernen: Es geht nicht um Gefühle, sondern um Handwerkszeug. Was ich meinen Auszubildenden heute sage: Ethisches Handeln in der Pflege ist nicht perfekt. Es ist ein ständiger Balanceakt zwischen verschiedenen Ansprüchen und Bedürfnissen. Manchmal gibt es keine gute Lösung, nur eine weniger schlechte. Empathie ist wichtig, aber sie reicht nicht. Sie muss ergänzt werden durch Reflexionsfähigkeit, Kommunikationskompetenz, Selbstfürsorge und manchmal auch durch den Mut, unbequeme Fragen zu stellen.
Wir täten gut daran, in der Pflegeausbildung ehrlicher zu sein. Ehrlich über die Herausforderungen des Berufs, ehrlich über die Grenzen des Systems und ehrlich über die emotionale Last, die alle im Gesundheitswesen beteiligte tragen. Statt "Seien Sie empathisch" könnte es heißen: "Lernen Sie, mit schwierigen Emotionen umzugehen - Ihren eigenen und denen anderer. Entwickeln Sie Strategien, um professionell nah zu bleiben, ohne sich selbst zu verlieren."
Das wäre ein Anfang. Ein ehrlicher Anfang.