In der Arbeit mit Straftätern wird es zwangsläufig persönlich. Zusätzlich lädt das Machtgefälle zur Selbstjustiz ein. Warum es schwierig ist, am längeren Hebel gerecht zu bleiben.
Meine Patienten sind häufig nicht angenehm. Sie sind zum großen Teil nicht gut erzogen, nicht höflich und haben alles andere als gute Umgangsformen. Es gibt einen Anteil an sehr kultivierten Menschen unter den Gefangenen – aber bei den meisten muss ich meine Erwartungen an Manieren und Sozialverhalten doch sehr herunterschrauben. Manche sind auf ihre Weise respektvoll („Alter, ich mag keine Psychologen, aber das war jetzt gar nicht so scheiße, wie ich erwartet habe“), andere sind nicht mal das. Auch die Kollegen verrohen mit den Jahren. Man kann recht gut erkennen, wer schon länger als fünf, länger als zehn oder gar länger als 20 Jahre in dem Laden arbeitet.
Die soziale Interaktion in und vor allem zwischen den Teams ist schwierig und speziell. Mit allen Beteiligten des Vollzuges. Jedes Referat versucht, sich zu behaupten, einige schotten sich regelrecht ab. Jeder möchte als unverzichtbar und gleichzeitig unantastbar gelten. Der AvD (s. Infokasten unten) ist schnell verschnupft, wenn man sich in vollzugliche Belange einmischt („Wär es möglich, dem Herrn Heinrich tagsüber die Kostklappe aufzulassen, der schiebt gerade wieder Panikattacken.“)
Die Juristen mögen gar nicht, wenn man beispielsweise hinterfragt, ob der Gefangene jetzt wirklich zehn Tage in den Arrest muss, weil er eine Tasse VOR einem Bediensteten auf den Boden geknallt hat – nachdem der Bedienstete ihn aufs Messer provoziert hat (was so natürlich nicht im Bericht steht, aber mündlich von allen Beteiligten bestätigt wird).
Und die Ärzte bekommen sowieso Schnappatmung, wenn man IRGENDetwas hinterfragt, was durch das heilige weiße Referat empfohlen wurde. Meistens geht es um BgH-Unterbringungen (s. Infokasten unten), die aus dem gekränkten Ego des medizinischen Dienstes hervorgehen. Der Gefangene wird beispielsweise bockig, weil er sein Pregabalin runtergesetzt bekommt und droht: „Dann schneide ich mich halt, dann seht ihr, was ihr davon habt.“ Ohne Frage, das ist dumm. Ihn dann eine volle Nacht oder länger in den BgH zu sperren, ist völlig unangemessen, aber Alltag im Gefängnis.
Hinterfragt man kritisch, ob der Patient denn wirklich 24 Stunden lang akut selbstgefährdend war (was – ihr werdet es erraten – zur weiteren Verärgerung der Ärzteschaft beiträgt), wird einem erklärt, man müsse als Arzt schließlich eine Interaktionsgrundlage schaffen. Also eine Compliance herstellen in dem Sinne, dass man bei den Patienten eine Kooperationsbereitschaft erzwinge, äh, aufbaue. Ist klar. Compliance durch Zwang und Bedrohung. Schafft bestimmt eine stabile Behandlungsgrundlage.
Nun möchte ich aber von meinem hohen Ross einmal herabsteigen und selbstkritisch auf die letzten Jahre meines Dienstes blicken. Da war der Gefangene, der allen weiblichen Bediensteten das Leben zur Hölle gemacht hat, nennen wir ihn Herrn Hasani. Seine Freundin ist fremdgegangen. Das fand er nicht gut und hat sie deshalb gefesselt mit einem Seil an den Abschlepphaken seines Autos gebunden, Gas gegeben und sie fast einen Kilometer weit mit über 50 km/h hinter sich hergezogen. Sie hat schwer verletzt überlebt.
Herr Hasanis Verhalten im Vollzug war … speziell. Er ließ keine Gelegenheit aus, lauthals über den Gang zu posaunen, welche sexuellen Praktiken er mit dieser oder jener Kollegin plane. Ich habe in der Zeit, wie alle meine Fachdienst-Kolleginnen, vermieden, bei Aufschluss über den Gang zu laufen und so in Kontakt mit diesem Herren treten zu müssen. Taten wir es doch, spielten sich Szenen wie z. B. folgende ab: Herr Hasani kommt aus seinem Haftraum geschossen wie ein Hund, wenn man die Futtertüte öffnet und versperrt mir den Weg, sein Gesicht bedrohlich nah an meinem. Sofort greife ich an mein Funkgerät, um den Alarm auszulösen zu können. Zögere aber, weil nichts weiter passiert. Er sieht mich einfach nur mit einem verstörend starren Lächeln an.
Eine Mischung aus seinem Atem, seinem Schweiß und dem chemischen Waschmittel, mit dem die Gefangenenkleidung gereinigt wird, dringt durch meine Nasenlöcher in meinen Kortex. Ich will das nicht. Ich will ihn nicht in meinem Kortex. Ich bekomme Angst und bin kurz gelähmt – was mich maßlos ärgert. Ich trete einen Schritt zurück und erhebe meine Stimme so gut es eben geht: „Herr Hasani, halten Sie BITTE Abstand!“ Er tritt zurück, hebt die Hände und Augenbrauen und grinst noch breiter als zuvor; er labt sich sichtlich an meiner Verunsicherung. Das wars. Keine Tätlichkeit. Noch nicht mal eine Beleidigung.
Weil dies trotzdem eine Form der Bedrohung ist, schreibe ich ein sogenanntes VG52. Ein kurzer Bericht in unserem Computerprogramm, der automatisch bei den Juristen aufläuft und für jeden Bediensteten einsehbar ist. Manchmal macht man das als Warnung für die anderen, manchmal auch, um dem Gericht einen besseren Eindruck über das Verhalten des Gefangenen in Haft zu verschaffen. Meistens aber wünscht man sich in erster Linie eines: Sühne. Wiederherstellung der Verhältnisse. Gerechtigkeit. Der Gefangene soll seine angemessene Strafe bekommen. Gerne auch etwas mehr als das. Das hier ist schließlich persönlich.
Tatsächlich warf die Juristin im Vorgespräch zum Rapport 10 Tage Arrest in den Raum – was objektiv gesehen viel zu viel ist. Er hat nichts gemacht, mich nicht beleidigt, mich nicht angefasst. Er kam mir zu nah und trat zurück, als ich ihn dazu aufgefordert habe. Und doch war ich gerne einverstanden mit diesen 10 Tagen und bin es heute noch. Ich wäre auch mit einer höheren Strafe einverstanden gewesen. Und hätte sie ihn in den BgH verlegt, hätte ich wohl kein Veto eingelegt (hierfür gab es keine Grundlage, ich spiele lediglich ein paar Gedanken durch).
Um das hohe Ross komplett zurück in seinen Stall zu stellen, eine weitere Situation aus meinem Dienstleben: Ein Gefangener, nennen wir ihn Herrn Al-Hakim, war nicht zufrieden mit der Tatsache, dass er in Haft war. Er proklamierte lautstark, unschuldig zu sein. Er verlieh dem Ausdruck, indem er sein Essen nach den Bediensteten warf, nachts herumbrüllte und seinem Gegenüber in hitzigen Diskussionen gerne mal ins Gesicht spuckte. Kurz: ein unangenehmer Zeitgenosse.
Eines Tages saß ich im Stationsbüro mit zwei Bediensteten der SIG (Sicherungsgruppe) bei einem Kaffee und man quatschte so über dies und das. In solchen Momenten wird gerne mal Psychohygiene betrieben, was ein schöneres Wort ist für „über die Gefangenen lästern“. Man braucht das ab und zu und solange die Tür zu ist und kein anderer Gefangener das hört, ist nichts dagegen einzuwenden. Wir sprachen über Herrn Al-Hakim und ich warf unreflektiert in den Raum „Dem täte eine Nacht in der Absonderung auch mal gut.“ Dieser Satz brachte mir großen Respekt von den „harten Jungs“ der SIG ein, die uns Psychologen eh alle für weichgespülte Händchenhalter halten.
Ich fühlte mich in dem Moment gut. Mit diesem einem Satz stieg mein Ansehen. Mir war nicht einmal klar, dass deren Ansehen für mich eine Bedeutung hat. Im Grunde ist es doch ziemlich verwerflich, das eigene Standing auf Kosten eines anderen zu steigern. Seine eigentlichen Überzeugungen in einer solchen Runde mal weniger streng zu verfolgen, um das Bild meines sozialen Umfeldes über mich aufzupolieren. In diesem Fall geschah es quasi aus Versehen. Im Affekt. Aber ich habe es nicht korrigiert, insofern war es doch voll intentional und bewusst.
Oft ärgere ich mich darüber, dass der AvD, die Ärzte oder die Juristen ihre Macht über die Gefangenen ausspielen. Dies passiert besonders, wenn es stressig wird. Sätze wie „wir sind hier nicht im Hotel“ sollen den Gefangenen seinen Platz weisen. Ihm deutlich machen, dass ER im Gefängnis sitzt und ich hier das Sagen und die Schlüssel habe. Ich finde das ekelhaft und überflüssig.
Als ich aber gestern aus einem stressigen Meeting kam, viel zu spät für meinen 13-Uhr-Termin über den Gang zu meinem Büro hastete und mein altbekannter Psychotiker Herr Vogel sich mir in den Weg stellte, um mich daran zu erinnern, dass er ja heute noch Termin habe, und ich solle das ja nicht vergessen und wann ich ihn denn hole und ab 15 Uhr bitte nicht, weil er will heute in den Hof und 14 Uhr wäre besseralsfrüherweilum13:30istaufschluss … da höre ich mich sagen: „Herr Vogel! Das ist kein Wunschkonzert hier.“
Er war sofort still. Die Quittung kam um 14 Uhr, als der Gefangene schließlich in meinem Büro saß. Herr Vogel fabulierte volle 30 Minuten während unseres Gespräches von Energiefeldern, Obelix und den Cheops-Pyramiden sowie seiner angeblich gestern Abend diagnostizierten Hochintelligenz. Außerdem fing er immer wieder an, zu singen.
Solange Gefangene in unserem System aus erzieherischen Gründen in Isolationshaft gesteckt werden, wie man es vor 50 Jahren mit unartigen Kindern gemacht hat, brauche ich mich im Grunde für so etwas nicht zu rechtfertigen. Mir ist dennoch wichtig, meinen Umgang und meine Einstellung den Gefangenen gegenüber immer wieder zu hinterfragen.
Unsere Klientel ist zu einem großen Teil gefährlich. Angst dürfen wir deshalb keine haben, zumindest sollten wir sie nicht zeigen. Über Angst, Traumatisierung und Überforderung wird bei uns im Grunde auch nicht gesprochen. Supervision gibt es faktisch keine und Fehler werden hinfortgelächelt und weggeschwiegen. In einem solchen Klima tut es gut, die Kontrolle zu behalten. Und Macht gibt Kontrolle. Und egal, mit welchem Kollegen aus welcher Berufsgruppe wir gerade Beef haben – über eine Gruppe haben wir immer Macht: über die Gefangenen. Und so schließt sich der Kreis. Ein gemeinsamer Gegner, ein kleinster gemeinsamer Nenner. Das macht es so viel einfacher, in diesem System zu bestehen.
Gegen diese Dynamik anzukämpfen, fühlt sich an wie der Versuch, durch dickflüssigen Kautschuk zu sprinten. Es wäre so viel leichter, mit dem System zu schwimmen. All die sadistischen Gepflogenheiten und die ungeschriebenen Gesetze der Selbstherrlichkeit unreflektiert zu übernehmen. Zum Glück fühlt sich das für mich noch immer falsch an. Das zeigt mir, dass mein Wertesystem noch intakt ist. Diese Erkenntnis gibt mir Kraft, weiter gegen den Strom zu schwimmen und meine Stimme zu erheben. Für die, die es nicht können. Auch wenn ein paar richtige Arschlöcher darunter sind (entschuldigen Sie bitte). Explizit ausgedrückt: Auch wenn Menschen darunter sind, die das – und Schlimmeres – sicher verdient hätten.
Und auch, wenn es mir nicht immer gelingt – ich schwimme weiter. Gegen den Strom, gegen Ungerechtigkeit und Sadismus, der sich im ersten Moment gut anfühlt, weil er einem das Gefühl von Kontrolle und Selbstwirksamkeit gibt. Gegen die Versuchung, den längeren Hebel einzusetzen. Gegen den inneren Drang, die „Bösen“ abzustrafen. Gegen staatlich legitimierte Selbstjustiz im kleinen Stil, die sich so schnell gut und richtig anfühlt. Weil das Falsche nicht zum Guten wird, nur weil man es den vermeintlich Bösen antut.
AVD (Allgemeiner Vollzugsdienst): Uniformierter Dienst, der für die alltägliche Betreuung, Verwahrung und Bewachung der Gefangenen zuständig ist.
BgH (Besonders gesicherter Haftraum): Ein meist gekachelter Raum ohne bewegliche Gegenstände. Häufig mit einer Stehtoilette ausgestattet, da man sich in regulären WCs ertränken könnte. Fensterlos oder milchverglast. Zum Schlafen dient eine Matratze auf dem Boden und eine Decke, beides aus reißfestem Material, damit diese nicht in Streifen gerissen und Seile damit geknüpft werden können. Der Gefangene wird komplett entkleidet und erhält eine Unterhose aus papierähnlichem Material, welche unter Zug schnell zerreißt. Der Raum ist geheizt, sodass der Inhaftierte nicht frieren muss. Die Gefangenen werden hier im Falle einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung für den Zeitraum ihres kritischen Zustandes untergebracht.
Rapport: Gespräch, welches von einer zuständigen Juristin geführt wird, in welchem der Gefangene mit einer Verfehlung konfrontiert wird. Der Gefangene kann sich zu den Vorwürfen äußern, bevor über seine Strafe (z. B. TV-Entzug, Einkaufssperre, Arrest) entschieden wird. Häufig werden auch Zeugen (Geschädigte) gehört.
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