Mit Orforglipron geht eine neue Generation oraler GLP-1-Agonisten an den Start. Die Daten versprechen starke Gewichtsreduktion und einfache Anwendung – doch Experten sind sich uneins über den tatsächlichen Nutzen.
Der globale Markt für GLP-1-Rezeptoragonisten boomt. In 2024 erreichte er ein Volumen von rund 52 Milliarden US-Dollar, in 2025 könnten es schon 63 Milliarden sein. Prognosen zufolge wird die Nachfrage in den kommenden Jahren weiter explodieren – bis 2032 rechnen Analysten mit einem Marktvolumen von mehr als 150 bis 190 Milliarden US-Dollar.
Damit steigt der Druck auf die Hersteller: Nur wer mit innovativen Wirkstoffen auftritt, bekommt sein Stück vom Kuchen. Mit Orforglipron bringt Eli Lilly einen neuen Wirkstoff ins Rennen. Doch hat die Tablette das Potenzial, die Erfolgsgeschichte der GLP-1-RA fortzuschreiben?
Zum Hintergrund: Während bekannte Präparate wie Liraglutid, Dulaglutid oder Semaglutid Peptide sind, handelt es sich bei Orforglipron um ein kleines, nicht-peptidisches Molekül („small molecule“).
Dieser Unterschied ist mehr als eine chemische Spitzfindigkeit: Orforglipron weist eine höhere orale Bioverfügbarkeit auf; das Molekül ist im Gastrointestinaltrakt stabil. Hinzu kommt ein möglicher Kostenvorteil: Da sich die Synthese etwas einfacher gestaltet als bei Peptiden und keine Schutzmechanismen gegen den Abbau im Magen notwendig sind, könnte Orforglipron deutlich preiswerter sein als andere GLP-1-RA.
Pharmakologisch setzt Orforglipron auf bekannte Mechanismen der GLP-1-Klasse. Es bindet selektiv an den GLP-1-Rezeptor, verstärkt die glukoseabhängige Insulinsekretion, hemmt die Ausschüttung von Glukagon und verzögert die Magenentleerung. Die Folge sind eine zuverlässige Blutzuckersenkung bei gleichzeitig geringem Risiko für Hypoglykämien – vorausgesetzt, es wird nicht mit Insulin oder Sulfonylharnstoffen kombiniert.
Besonders wichtig sind Effekte auf das Körpergewicht, wie die Phase-III-Studie ATTAIN-1 zeigt. Eli Lilly hat einige Resultate jetzt als Pressemeldung veröffentlicht. Detaillierte Studiendaten will der Hersteller auf der EASD-Jahrestagung im September 2025 vorstellen und in einer Fachzeitschrift publizieren.
Eingeschlossen wurden 3.127 Erwachsene mit Adipositas oder Übergewicht und mindestens einer Begleiterkrankung wie Hypertonie, Dyslipidämie, Schlafapnoe oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen – jedoch ohne Typ-2-Diabetes. Sie erhielten per Zufallsprinzip Orforglipron in einer täglichen Dosis von 6, 12 oder 36 Milligramm oder Placebo, jeweils ohne Vorgaben zu Nahrungsaufnahme oder Trinkmenge.
Nach 72 Wochen zeigte sich in allen drei Dosierungen ein deutlicher Gewichtsverlust gegenüber Placebo. Die durchschnittlichen Werte:
Fast 60 % der Teilnehmer im Studienarm mit 36 mg verringerten ihr Gewicht um mindestens 10 %, knapp 40 % sogar um mindestens 15 %. Zusätzlich besserten sich kardiometabolische Risikofaktoren, darunter Nicht-HDL-Cholesterin, Triglyzeride, der systolische Blutdruck und der Entzündungsmarker hsCRP.
Das Sicherheitsprofil entsprach dem anderer GLP-1-RA. Als häufigste Nebenwirkungen nennt der Hersteller gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Verstopfung oder Durchfall, meist mild bis moderat und vorwiegend zu Beginn der Behandlung. Schwere Leberschäden traten nicht auf; Hinweise auf eine Hepatotoxizität fand das Studienteam nicht.
Mit diesen Daten will Eli Lilly noch in diesem Jahr eine Zulassung beantragen. Ein weltweiter Marktstart soll laut Pressemeldung zeitnah folgen.
„Die Ergebnisse der ATTAIN-1-Studie zeigen, dass Orforglipron [...] im Vergleich zu Placebo zu einer über zehnprozentigen Reduktion des Körpergewichts führt“, kommentiert Prof. Dr. Stephan Martin. Er ist Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums. Damit liege die Gewichtsabnahme nur unwesentlich unter der von Semaglutid.
„Ungünstig ist der Studienvergleich gegen ein Placebo“, sagt Dr. Stefan Kabisch von der Klinik für Endokrinologie und Stoffwechselmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin. „Hierdurch erscheint der Effekt der Pille besonders stark.“ Bei alleiniger Betrachtung dieser einen Studie werde suggeriert, dass es bisher keine potenziell ebenbürtige Therapie gäbe. „Entscheidend ist, dass Orforglipron in der genannten Studie nur in Kombination mit gesunder Ernährung und ausreichend Bewegung eingesetzt wurde.“ Ohne diese Zusatzaspekte sei die Wirkung geringer oder gegebenenfalls sogar gesundheitlich nachteilig.
Neben Orforglipron gibt es bereits einen weiteren oralen Vertreter der GLP-1-Rezeptoragonisten: Semaglutid (Rybelsus®) – in der EU allerdings nur für die Behandlung des Typ-2-Diabetes bei Erwachsenen. Die US-Zulassung umfasst auch Adipositas. Daten zum Nutzen bei Adipositas stammen aus den klinischen Studien Oasis-1 und Oasis-2.
In Oasis-1 wurden 667 übergewichtige Teilnehmer zufällig entweder mit 50 Milligramm oralem Semaglutid oder einem Placebo behandelt. Nach 68 Wochen hatten Patienten der Verum-Gruppe im Durchschnitt 15,1 % ihres Ausgangsgewichts verloren, während die Placebo-Gruppe lediglich auf 2,4 % kam. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen betrug 12,7 Prozentpunkte. Eine weitere, ebenfalls 68 Wochen dauernde Studie mit 201 ostasiatischen Probanden bestätigte diese Ergebnisse. Auch hier führte Semaglutid in Tablettenform zu einem deutlich stärkeren Gewichtsverlust als Placebo; der Unterschied lag bei 13,1 Prozentpunkten. Das Sicherheitsprofil entsprach in beiden Studien dem der bekannten GLP-1-Wirkstoffklasse.
Die Tablettenform von Semaglutid bietet unbestreitbare Vorteile. Für viele Patienten ist die tägliche Einnahme ohne Injektionen angenehmer. Doch die Applikation hat ihre Tücken: Das Präparat muss morgens nüchtern eingenommen werden – mindestens 30, besser 60 Minuten vor dem Frühstück oder anderen Medikamenten. Zudem gelangt durch den Abbau im Magen-Darm-Trakt deutlich weniger Wirkstoff ins Blut als bei der Injektion. Um eine vergleichbare Wirkung zu erzielen, sind höhere Tagesdosen erforderlich. An diesem Punkt setzt Orforglipron an: Laut bisher vorliegenden Studiendaten kommt der neue Wirkstoff ohne solche Einschränkungen aus.
An der Bedeutung von Orforglipron scheiden sich die Geister. Kevin Fernando, Diabetologe aus Schottland, spricht von einer „potenziell weltweit einsetzbaren Option für die Therapie von T2D und zur Gewichtskontrolle“, speziell in wirtschaftlich schwachen Regionen, wo Kosten, Verfügbarkeit und Zugang den Einsatz der GLP-1-RA stark einschränken würden. Er spekuliert, der Wirkstoff sei vielleicht eine „Erstlinientherapie für Menschen mit frühem Typ-2-Diabetes und Übergewicht oder Adipositas“.
Genau davor warnt Kabisch: „Ernährungstherapien – kausal wirksam statt symptomorientiert – könnten in der Wahrnehmung von Patienten und Therapeuten weiter an Bedeutung verlieren.“ Die Entscheidungsschwelle, anstatt einer Ernährungsumstellung auf eine Pille zu setzen, werde sinken, zumal eine bisherige psychologische Hemmschwelle wegfalle: die regelmäßige Injektion mit einer Spritze.
Martin sieht im neuen Medikament ebenfalls keinen Durchbruch bei der Adipositas-Behandlung. „Die grundsätzlichen Probleme der GLP-1 basierten Gewichtsabnahme werden sich durch eine orale Gabe nicht ändern“, kommentiert er in einem Pressestatement. „Von Semaglutid wissen wir, dass ein Absetzen zu einem Jojo-Effekt führt und dass neben der Fettmasse auch die Muskelmasse abnimmt.“ Wer nicht bereit sei, das Medikament ein Leben lang zu verwenden, nehme nach dem Absetzen wieder zu.
Orforglipron im Überblick
Bildquelle: Midjourney