KOMMENTAR | Pandemie, Krieg, Kollaps: Wir leben in unsicheren Zeiten. Aber wie gut ist Deutschland auf den Ernstfall vorbereitet? Wo ich Engpässe sehe und was sich ändern muss.
Noch während viele die Überlastung der Corona-Pandemie verdrängen oder sich nur ungern daran erinnern, verändert sich das sicherheitspolitische Koordinatensystem Europas rasant. Stimmen wie der polnische Ministerpräsident Donald Tusk warnen offen vor einem möglichen russischen Angriff im Jahr 2027. Was bedeutet das für unser Gesundheitssystem, für Kliniken, Praxen, Strukturen der Regelversorgung? Wie resilient ist unser System in einer geopolitischen Krise – sei es durch militärische Eskalationen, großflächige Cyberangriffe, Flüchtlingsbewegungen oder Versorgungsausfälle? Und: Haben wir aus der letzten großen Krise – der Pandemie – wirklich gelernt?
Die Corona-Zeit war für das Gesundheitssystem eine Zerreißprobe. Und sie offenbarte zweierlei:
Im Rückblick lässt sich sagen: Vieles hat erstaunlich gut funktioniert – aber eben auch vieles nur mit Glück, Improvisation und dem Einsatz einzelner. Darüber lässt sich trefflich diskutieren. Klar ist: Die Pandemie hat im Gesundheitswesen Spuren hinterlassen. Enttäuschung über politische Entscheidungen, Frust über mangelnde Wertschätzung, das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein – all das wirkt bis heute nach. Viele Strukturen sind ausgezehrt, das Personal erschöpft. Vieles spricht dafür, dass unser System heute – paradoxerweise – schlechter vorbereitet ist als vor der Pandemie. Deshalb muss die zentrale Frage lauten: Schaffen wir das wirklich noch einmal – und müssten wir beim nächsten Mal vielleicht sogar noch mehr leisten?
Was, wenn nicht ein Virus, sondern ein Angriff auf die NATO-Staaten eine neue Krise auslöst? Einige mögliche Szenarien:• Zivile Verletzte durch Angriffe oder Unfälle bei Evakuierungen• Massive Flüchtlingsbewegungen, etwa aus Osteuropa, mit medizinischem Grund- und Notversorgungsbedarf• Soldaten mit schweren Verletzungen in Kliniken• Lieferkettenausfälle bei Arzneimitteln, Diagnostik, Medizintechnik• Cyberangriffe auf Gesundheitseinrichtungen, PVS-Systeme, Kommunikation
Während Bundeswehr und Katastrophenschutz auf solche Lagen vorbereitet sein mögen – auch wenn man sich da nicht immer sicher sein kann –, stellt sich umso drängender die Frage: Ist es die reguläre Versorgung auch? Wer glaubt, dass zentrale Einsatzpläne und Hochglanzkonzepte im Ernstfall ausreichen, unterschätzt die operative Rolle der ambulanten Medizin – und die tatsächliche Belastbarkeit der heutigen Versorgungslandschaft.
Tatsächlich arbeiten Kammern, KVen und Ministerien an Konzepten zur Krisenvorsorge. Doch diese werden oft zentral geplant, in Gremien diskutiert – und verlaufen dann nicht selten im Sand. Die Realität in vielen Praxen: Man weiß von solchen Planungen kaum etwas. Oder man fühlt sich – nach Pandemie, Inflation, Personalnot und Bürokratielast – nicht mehr in der Lage, auch noch eine „Notfallstrategie“ zu entwickeln. Doch genau das wäre nötig. Denn wie schon in der Pandemie zeigt sich: Ohne die Arztpraxis vor Ort, ohne den ambulanten Sektor wird kein Krisenmanagement funktionieren.
Ein Beispiel aus der Vergangenheit, das viel zu selten konsequent ausgewertet wurde, ist die Flüchtlingskrise 2015. Auch damals standen Versorgungsstrukturen plötzlich unter enormem Druck. Hunderttausende Menschen mussten medizinisch betreut, versorgt, geimpft und integriert werden. Besonders auffällig: Nicht zentrale Planstellen oder Behörden, sondern lokale Akteure – Praxen, Kommunen, Ehrenamtliche – machten die Versorgung überhaupt erst möglich. Diese Erfahrungen müssten heute zentraler Bestandteil jeder Krisenvorsorge sein – sind es aber nicht.
Während über Klinikschließungen, Fallpauschalen und Primärarztsystem diskutiert wird, geraten folgende Umstände aus dem Blick:• Die Hausarztpraxis ist erste Anlaufstelle – für chronisch Kranke, Geflüchtete, akute Symptome.• Viele Facharztpraxen leisten spezialisierte Versorgung, die in Kliniken nicht abbildbar ist.• Die ambulante Struktur ist flächendeckend und dezentral – ein unschätzbarer Vorteil in jeder Krise. Nur: Diese Struktur ist fragil. Ökonomisch unter Druck. Personell ausgedünnt. Und sie ist nicht krisenfest vorbereitet.
Was wären sinnvolle Schritte? Spontan fällt mir ein:• Regionale Notfallnetzwerke aufbauen – gemeinsam mit KVen, Praxen, Pflege, Kommunen• Vorratskonzepte entwickeln: Medikamente, Schutzmaterial, Technik• Regelmäßige Übungen (wie sie im Katastrophenschutz selbstverständlich sind)• Dezentrale Kommunikation sichern: unabhängig von zentralen Servern oder IT-Systemen• Ambulante Ersatzstrukturen vorplanen, wenn Praxen ausfallen• Überhaupt erst einmal darüber nachdenken und diskutieren – in Teams, Gremien, Netzwerken, und: in jeder PraxisDie wichtigsten Akteure dabei: Nicht „die Funktionäre“, sondern wir alle – Hausärzte, Fachärzte, MFA, Praxismanager.
Die Diskussion um die Krankenhausstrukturreform ist ebenfalls kritisch zu hinterfragen: Ja, es braucht eine Neuordnung der stationären Versorgung – Qualität vor Quantität. Aber der völlige Rückzug aus der Fläche und die Ausdünnung kleiner Häuser birgt im Krisenfall erhebliche Risiken. Ambulantisierung darf nicht heißen: Entsorgung von Verantwortung. Die Resilienz eines Systems lebt auch von Redundanzen – eine Idee, die ökonomisch unpopulär, aber krisentechnisch essenziell ist. Resilienz bedeutet in jedem Fall nicht, Konzepte zu schreiben. Sondern sich gemeinsam vorzubereiten. Im Kleinen wie im Großen.
Deshalb möchten wir die Diskussion anstoßen und wollen von euch wissen:• Welche Rolle kann und sollte eure Praxis, euer Fachgebiet in einem Krisenszenario spielen?• Was müsste verbessert werden – in der Kommunikation, in der Infrastruktur, in der Unterstützung?• Wo seht ihr echte Gefahren – und wo ist Deutschland vielleicht sogar gut aufgestellt?
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