Herr Scheffel hat klare Vorstellungen davon, was ihm im Knast zusteht – und droht mir, sich umzubringen, wenn ich ihn nicht telefonieren lasse. Wie ich mit dieser Erpressung umgehen soll, weiß ich aber nicht. Darf ich ihm auch drohen?
„Wenn Sie damit leben können, dass ich mich umbringe, weil ich hier eingesperrt bin und keinen Kontakt nach draußen habe? Okay! Dann lassen Sie mich eben nicht telefonieren.“ Der Gefangene zieht provokativ Schultern und Augenbrauen nach oben. Er hat eine genaue Vorstellung davon, was er mit dieser Drohung auslöst.
„Wollen wir das Spiel jetzt wirklich spielen?“, frage ich. Genervt stütze ich meine Ellbogen auf den Tisch und reibe meine Schläfen mit meinen Fingerspitzen. Er macht weiter: „Man wird hier schlimmer behandelt als in Guantanamo. Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn ich morgen stocksteif im Haftraum hänge!“ Mein Puls erhöht sich auf eine ungesunde Frequenz. Ein brennender, unprofessioneller Zorn steigt in mir hoch. Mir wird warm. Ich atme deutlich hörbar ein und kämpfe gegen eine unüberlegte Antwort an, die soeben meine Lippen verlassen will. Stattdessen frage ich: „Waren Sie denn schon einmal in Guantanamo?“ – „Natürlich nicht, aber schlimmer als hier kann es auch nicht sein!“
Herr Scheffel hat klare Vorstellungen davon, was ihm hier drinnen zusteht. Leider decken sich diese Vorstellungen nicht mit dem Gesetz. Hinzu kommt, dass in mir eine Mauer der Reaktanz in die Höhe quillt und erhärtet wie Bauschaum aus der Tube.
„Wenn ich jetzt nicht sofort mit meiner Freundin telefonieren kann, dann bringe ich mich um. So einfach ist das.“ – „Wenn Sie mir weiterhin mit Suizid drohen, verbringen Sie die Nacht in einem gekachelten Raum in einer Papierunterhose. SO einfach ist das!“ Es tut gut, am längeren Hebel zu sitzen. Ich erschrecke ein bisschen darüber, wie sehr ich diese Drohung in diesem Moment genossen habe. Sie hat auch gefruchtet. Herr Scheffel ist plötzlich gar nicht mehr suizidal. Nur noch wütend.
Aber: Ist es wirklich so einfach? War Herr Scheffel wirklich suizidal? Oder einfach provokant, manipulativ und renitent? Ein Haftstörer, sozusagen? Und hatte ich mich nicht zu verschiedenen Gelegenheiten deutlich dagegen ausgesprochen, störendes Verhalten durch BgH-Androhung (s. Infobox) oder gar -Unterbringung zu unterbinden?
Ein meist gekachelter Raum ohne bewegliche Gegenstände. Häufig mit einer Stehtoilette ausgestattet, da man sich in regulären WCs ertränken könnte. Fensterlos oder milchverglast. Zum Schlafen dient eine Matratze auf dem Boden und eine Decke. Beides aus reißfestem Material, damit diese nicht in Streifen gerissen und Seile damit geknüpft werden können. Der Gefangene wird komplett entkleidet und erhält eine Unterhose aus papierähnlichem Material, welche unter Zug schnell zerreißt. Der Raum ist auf Körpertemperatur geheizt, sodass der Inhaftierte nicht frieren muss.
Die Gefangenen werden hier im Falle einer akuten Selbst- oder Fremdgefährdung für den Zeitraum ihres kritischen Zustandes untergebracht.
Ich muss keine erstklassige Psychologin sein, um die stabilisierenden Momente in diesem Patienten auszumachen: Er hat eine Freundin und ein Ziel, außerdem deutlich narzisstische Züge und hält sich von daher tendenziell für unverzichtbar. Er ist wütend, aber nicht verzweifelt und hoffnungslos. Die Suizidandrohung ist nicht ernst zu nehmen. Der Typ ist maximal unsympathisch, aber NICHT suizidal. Ist es also lege artis, mit einer Zwangsmaßnahme zu drohen, die ich eigentlich in diesem Fall nicht angewendet werden dürfte? Rechtlich im besten Fall eine Grauzone. Moralisch zwar nachvollziehbar, aber sicher nicht korrekt. Praktisch gesehen sehr effektiv.
Wie reagiere ich nun aber völlig korrekt, wenn ein Gefangener mit dem eigenen Suizid droht? Nicht aus Verzweiflung und wahrer Motivation heraus, sondern aus rein erpresserischen Motiven? Wenn ein schwer süchtiger Patient beim Arzt sitzt und diesem jede Woche droht: „Wenn Sie mir mein Methadon runterdosieren, bringe ich mich um.“
Was, wenn er, um dem Ganzen Nachdruck zu verleihen, beginnt, sich selbst zu verletzen? Was, wenn andere mithören? Wie lang kann ich das laufen lassen? Denn: Wenn er sich entgegen jeder Wahrscheinlichkeit doch umbringt, gerate ich ordentlich in Erklärungsnot.
Ich habe lange über diese Frage nachgedacht und am Ende fällt mir doch einfach nichts Besseres ein, als ein deutliches, archaisches Echo in Form von Androhung oder Durchsetzen verschiedenster Repressalien. Das macht mich unzufrieden, denn ich habe mich sehr wohlgefühlt auf meinem moralisch hohen Ross.
Strafe und Schutz verschwimmen im Strafvollzug häufig. Der BgH ist keine Strafmaßnahme und als solche nicht zulässig. Aber es geht schnell. Gefahr im Verzug – ab in die gekachelte Hölle. Das dauert keine 10 Minuten. Dieses Schnellverfahren ist richtig und rettet Menschenleben. Denn ein akut suizidaler Gefangener kann nicht allein in seinem Haftraum bleiben, bis in ein paar Stunden irgendwas entschieden ist. Und wenn ein hochaggressiver Gefangener mit Fäkalien und der Haftraumeinrichtung wirft, ist es auch eher schlecht, noch zwei, drei Tage auf einen Beschluss des Juristen zu warten. Der Herr muss JETZT gesichert werden, sonst kommen Kollegen zu Schaden.
Ein sauberer Prozess mit Rapport, Festsetzen einer Disziplinarmaßnahme und Unterbringung im Arrest passiert oft erst nach Wochen und ergibt in dem Moment, in dem er vollzogen wird, oft gar keinen Sinn mehr. Und hier stellt sich die nächste Frage: Wie sinnvoll ist es, jemanden, der im Gefängnis eingesperrt ist, weil er sich draußen nicht an die Regeln halten konnte, NOCH mehr einzusperren, weil er sich im Gefängnis wieder nicht an die Regeln halten konnte?
Zur Erklärung: Der Arrest ist eine Disziplinarmaßnahme, die bei besonders schwerwiegenden Vergehen innerhalb der Haft verhängt wird (beispielsweise ein tätlicher Angriff, oder das Einschmuggeln von Handys oder Drogen). Der Gefangene verbringt einen festgelegten Zeitraum in einem speziellen, isolierten Haftraum. Dieser hat zwar ein Fenster, welches aber meist derart beschaffen ist, dass der Gefangene nicht heimlich Kontakt zu anderen Gefangenen aufnehmen kann. Es ist z. B. mit einem feinen Gitter versehen, um das sogenannte „Pendeln“ zu unterbinden (Gegenstände wie Zigaretten, Briefe oder im schlimmsten Fall Handys und Drogen werden an eine Schnur gebunden und von Hafträumen oberhalb heruntergelassen). Im Arrest gibt es keinen Fernseher. Hofgang und Duschen findet einzeln statt und meist wird noch darauf geachtet, dass die Fachdienste die Buße des Gefangenen nicht durch irgendwelche entlastenden Gesprächstermine unterbrechen.
Außer, der Gefangene dekompensiert psychisch, dann werden die Psychologen gerufen, damit sie den Gefangenen im besten Fall so weit reparieren, dass er den Rest seiner Zeit in seinem Loch absitzen kann. Vor jedem Arrestantritt wird der Gefangene vom Arzt auf seine Arresttauglichkeit untersucht. Ein Arrest kann auch unterbrochen werden, wenn der Gefangene psychisch oder auch körperlich nicht mehr in der Lage ist, die Isolation weiter zu ertragen. Die Aussicht darauf, nach der Unterbrechung wieder reinzumüssen, bewegt viele Gefangene aber dazu, doch noch einmal die Arschbacken zusammenzukneifen.
Die Androhung eines Arrestes hätte mich in der Eingangssituation allerdings keinen Schritt weitergebracht, denn wofür hätten wir ihn denn bestrafen sollen? Dass er mit Suizid droht? Ein Suizid ist nicht strafbar und dass die Ankündigung in erpresserischer Absicht geschah, muss man ihm erstmal nachweisen. Man könnte noch sagen „Egal, bring dich halt um.“ Aber auch das geht nicht. Abgesehen vom moralischen Aspekt haben wir nämlich eine Garantenstellung, bekommen also Ärger, wenn ein Gefangener sich in unserer Obhut das Leben nimmt. Und so stehen wir erneut am Anfang und die einzig sinnvolle und für den Gefangenen logisch nachvollziehbare Drohung, die mir einfällt, bleibt der BgH.
Ich würde den Artikel gerne versöhnlich beenden, ein moralisches Fazit ziehen und vielleicht meinen Zeigefinger erheben. Doch das traurige Ergebnis meiner Überlegungen ist, dass die Welt im Vollzug nicht schwarz und weiß ist. Dass nicht immer völlig klar ist, was moralisch richtig und falsch ist. Dass sich ein Vorgehen richtig und gleichzeitig falsch anfühlen kann. Und dass es immer einen Unterschied macht, ob man selbst oder ein anderer in derselben Situation steckt.
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