Er ist bei Kollegen und Patienten beliebt, ein Arbeitstier und fachlich auf der Höhe: Herr Dr. Brand ist ein echter Vorzeige-Arzt. Doch jeden Abend wendet er sich seinem stillen Freund zu – dem Alkohol.
Alkoholabhängigkeit – das klingt nach erhobenem Zeigefinger, warnenden Überschriften und nach einem Problem, das natürlich immer nur die anderen betrifft. Doch für die Betroffenen und ihre Familien ist sie das Gegenteil von abstrakt: Sie ist der schleichende Zerfall von Alltag, Beziehungen und Identität; eine Krankheit, die ganze Lebensentwürfe zertrümmert, lange bevor jemand Hilfe sucht – und es kann jeden treffen!
Dr. Brand, der alles verliertDr. Brand, 47, Facharzt für Innere Medizin und bei Patienten wie Kollegen gleichermaßen beliebt, lebt jahrelang das Bild des engagierten, belastbaren Mediziners. Niemand merkt, wie sich während endloser Bereitschaftsdienste der Griff zum After-Work-Bier schleichend in ein regelmäßiges Fluchtmuster verwandelt. Bald bleibt es nicht mehr beim Feierabendbier. Alkohol wird zum stummen Helfer gegen Überstunden, hohe Verantwortung und die nie endenden eigenen Erwartungen.
Mit der Zeit schleichen sich immer mehr Fehler ein. Einmal wird eine Laborprobe vertauscht, das nächste Mal verschwindet eine Patientenakte spurlos. Morgens helfen ein paar Schlucke aus dem Flachmann, seine Hände ruhig zu bekommen. Und auch zu Hause steht bald mehr Leere als Leben in der Wohnung – früher ein Ort der Geborgenheit, jetzt ein Ort für Vorwürfe, Misstrauen und den heimlichen Griff zur Flasche. Seine Ehe, Freundschaften und der Selbstwert zerbrechen dabei fast unmerklich. Als Kollegen wundern wir uns mehr und mehr über seine Heimlichtuerei und unbegründete Reizbarkeit. Anfangs tuscheln die Kollegen, manche schweigen aus Loyalität und andere ignorieren die offensichtlichen Veränderungen.
Für viele Mediziner scheint es ein absolutes Tabu zu sein, Hilfe zu suchen. Schwäche zeigen? Unvorstellbar im ärztlichen Selbstbild. Stattdessen: Vertuschen, funktionieren, sich selbst und anderen etwas vormachen. Doch Alkohol kennt am Ende keine Hierarchien. Rund 10 Prozent der ärztlichen Mitarbeiter sind im Lauf ihrer Karriere suchtkrank – viele schweigen jahrelang.
Viele Patienten schaffen den Ausstieg nicht allein. Alkohol verändert biochemisch das Gehirn, bindet sich in die gesamte Lebensstruktur ein und scheinbar gibt es ohne ihn keine Entspannung und keinen Trost mehr gegen die Leere. Rückfälle sind häufig; der innere Konflikt zwischen Wunsch nach Veränderung und Sucht ist zermürbend. Viele verlieren auf dem Weg die Hoffnung und hadern mit Schuld, Scham und enormen Versagensängsten.
Alkoholabhängigkeit im Arztkittel ist keine Randnotiz, sondern oft stiller Alltag in vielen Praxen und Kliniken. Was es braucht? Professionelle Hilfe, Geduld und einen langen Atem – und vor allem Menschen, die den Absturz nicht einfach nur anschauen und schweigen, sondern nachfragen, aushalten und bleiben.Aufrichtigkeit statt Tabuisierung – und den Mut, hinter dem weißen Kittel den Menschen zu sehen, der Hilfe statt Verdammung verdient.Denn nur so lässt sich der Teufelskreis der Scham und Isolation durchbrechen – und ein Neuanfang wagen, im Beruf und im eigenen Leben.
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