Im klinischen Alltag gibt es vieles, das mich traurig oder nachdenklich zurücklässt: eine niederschmetternde Diagnose, einen schweren Krankheitsverlauf – oder den Tod. Warum niemand verdient, alleine zu sterben.
Während für mich der Tod schon sehr früh seinen Schrecken verloren hat, verdrängen die meisten Menschen den Gedanken daran bis zuletzt. Die Gesellschaft hat kollektiv beschlossen, dem Tod keinen sichtbaren Platz zu geben – durch Ablenkung und Abdrängung in Krankenhäuser und Hospize. Sobald ein Mensch tot ist, wird er mit einer Decke zugedeckt und in den Keller gebracht. Dort kommt der Leichnam in eine Kühlzelle. Von dort wird er vom Bestatter abgeholt.
In meiner ersten Klinik gab es für Verstorbene extra einen eigenen Aufzug am Ende der Station. Darüber konnten Leichen diskret und für den Publikumsverkehr unsichtbar auf direktem Weg in die Leichenhalle im Keller gebracht werden. Die Zufahrt der Bestattungsunternehmen erfolgte über den Hinterhof – abgeschirmt hinter einer großen Hecke. Als Zivi habe ich nicht verstanden, warum man sich so sehr darum bemüht, zu verbergen, dass Menschen im Krankenhaus sterben. Heute weiß ich: Lebende scheuen die Konfrontation mit dem Tod. Wo immer es möglich ist, wollen Menschen der Tatsache ausweichen, dass Leben endlich ist.
Und ja, der Tod an sich hat etwas Trauriges und unverhandelbar Ultimatives. Wenn Eltern am Bett ihrer toten Kinder weinen, ist das schlimm – denn Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben. Doch wenn die geliebte Großmutter im Kreis ihrer Familie stirbt, zerreißt auch da etwas. Die jährlichen Familientreffen werden nicht mehr die gleichen sein, wenn die Person stirbt, die alle verbunden hat. Früher dachte ich: Der Tod eines jungen Menschen ist tragischer als der eines Älteren. Doch Sterben ist immer schlimm – egal, in welchem Alter. Denn wenn der Großvater stirbt und die eigenen Eltern realisieren: „Wir werden die nächsten sein“ – das macht etwas mit einem.
Zwei Dinge sind für mich dabei besonders belastend – allen voran, wenn sie vermeidbar sind. Zum einen sind das offene Konflikte. Es gibt so viele zwischenmenschliche Beziehungen, in denen Streit oder andere Differenzen nie vor dem Tod geklärt wurden. Und plötzlich liegt dann eine der beiden Parteien auf meiner Intensivstation: intubiert, kontrolliert beatmet, keine Chance auf Kommunikation. Und während der Wunsch der Lebenden immer größer wird, den noch offenen Konflikt beizulegen, verschlechtert sich der Zustand der Sterbenden weiter.
Wenn wir dann den Todeszeitpunkt mitteilen und die Monitore ausmachen, ist für alle eindeutig – hier werden keine klärenden Worte mehr gesprochen. Das sind besonders schwere Momente, weil man diesen Schmerz mit aushalten muss. Wer es zu Lebzeiten nicht schafft, den Mut zusammenzunehmen, die Initiative für den ersten Anruf zu ergreifen und den ersten Schritt zu machen, weiß: Mit dem Tod sind alle Überlegungen hinfällig. Die Toten nehmen den Groll mit ins Grab und die Lebenden werden sehen müssen, wie sie damit umgehen.
Die unangenehmsten und mit Abstand traurigsten Situationen, in denen Menschen sterben, sind für mich aber immer die, in denen einfach niemand da ist.
Es ist zum Glück nur eine Minderheit, aber jeder Mensch, der alleine stirbt, ist für mich einer zu viel. Meist liegen Menschen für einen gewissen Zeitraum auf der Intensivstation. Wenn sich dann abzeichnet, dass sich der Zustand verschlechtert, versuchen wir mit großer Mühe, Angehörige zu erreichen. Fast immer melden sich diese aber von sich aus und fragen, wie es dem Menschen geht, der da bei uns liegt. Doch es gibt diese Fälle – da kommt niemand. Da liegen Menschen tagelang auf der Intensivstation und niemand besucht sie. Wenn der Kreislauf dann schwächer wird, die kreislaufstabilisierenden Medikamente immer höher laufen und gleichzeitig immer weniger wirken, dann halten wir als Team manchmal inne und merken: Dieser Mensch wird allein sterben, wenn wir nicht dableiben.
Bisher war ich gemeinsam mit der betreuenden Pflegekraft immer in dem Moment des Todes an der Seite dieser Menschen. Es sind manchmal nur wenige Minuten, aber die nehme ich mir. Ich weiß nicht, ob das überall so ist, aber ich kenne es nur so und ich würde es nie anders machen wollen.
Wir stellen uns an das Bett der Patienten und meistens halte ich eine Hand. Weil ich denke, dass sie das spüren – diese Wärme, dass da jemand da ist. Dann sage ich ihnen, dass sie jetzt nicht mehr kämpfen müssen, dass sie loslassen können. Wir machen das Fenster auf Kipp, damit die Seele raus kann. Mir ist schon klar, dass die Seele auch einen anderen Weg finden wird, aber die Symbolik gefällt mir: Du bist jetzt frei, hast alle Probleme, jeden Schmerz hinter dir. Es ist eine stille, respektvolle Handlung gegenüber dem Toten. Eine menschliche Geste, die dem Überirdischen Raum gibt, in einer sonst sehr technischen Umgebung – kurz bevor der sehr bürokratische und formelle Akt der Todesfeststellung und Leichenschau beginnt. Das Fenster auf Kipp schafft Ruhe, lässt frische Luft herein. Wir atmen gemeinsam durch und dann geht jeder seinen Weg.
So tröste ich mich mit dem Gedanken, dass bisher in meinen Diensten noch nie ein Mensch allein gestorben ist. Auch wenn ich weiß, dass es ein Unterschied ist, ob der behandelnde Arzt und die Pflegekraft an der Seite stehen oder Angehörige. Menschen, die einen geliebt haben, zu denen eine Beziehung bestand. Es bleibt eine gewisse Wehmut, dass hier ein Mensch einsam stirbt.
Davon trennen muss man den Wunsch Sterbender, die alleine sterben wollen. Ich habe viele Situationen erlebt, in denen Angehörige stundenlang am Bett saßen und in denen die Sterbenden offensichtlich auf einen Moment warten, allein sterben zu können. Es ist ein Unterschied, ob man freiwillig allein oder unfreiwillig einsam geht.
Wenn man Menschen fragt, wie sie sterben wollen, dann wird man Antworten finden wie „im Kreis der Familie“ oder „umgeben von den Liebsten“ – „alleine auf einer Intensivstation“ wird nicht dazugehören. Mir ist auch klar, dass man die Umstände, die dazu führen, dass man am Ende des Lebens allein ist, nicht nur selbst in der Hand hat. Vielleicht wäre es aber eine Idee, dagegen zu arbeiten, solange man es noch kann: Gemeinschaftswohnen, Kontakte über ein Ehrenamt oder Seniorentreffs.
Letztens las ich von einem älteren Herrn, der mehrmals wöchentlich in das lokale Tierheim fährt. Dort besucht er die Tiere, verbringt mit ihnen Zeit und macht mit ihnen Spaziergänge. Es kann auch helfen, rechtzeitig in eine barrierefreie Wohnung zu ziehen – um eben nicht schrittweise in dem Einfamilienhaus mit den ganzen Treppen und Stufen auf immer kleinerem Raum zu verkümmern. Doch dafür muss man selbst aktiv werden und nach vorne gehen. Das macht niemand für dich.
Ich hoffe, ich werde an meine eigenen Worte denken, wenn es bei mir so weit ist.
Bildquelle: Lera Platova, Unsplash