Als wir am Einsatzort ankommen, finden wir den Trümmerhaufen eines Lebens vor. Was wir nicht sehen: Wie dieser Haufen aussähe, wenn nicht der Bruder ständig versucht hätte, ihm Einhalt zu gebieten. Die Geschichte eines unsichtbaren Helden.
Es ist ein Dienstagabend, draußen sind es noch angenehme, in Einsatzkleidung schon etwas zu warme 26 Grad. Es war in den letzten Tagen sogar noch etwas wärmer, aber die ganz warmen Tage hat Herr Meders nicht mehr erlebt. Er lag an diesem Dienstagabend bereits seit drei Tagen in seiner Wohnung auf dem Boden. Tot.
Bisher hatte das aber niemand gemerkt. Am Vortag war den Nachbarn erstmals aufgefallen, dass sie sich abends ganz ungestört auf dem Balkon unterhalten konnten. Für gewöhnlich war sonst immer das Fernsehprogramm, welches Herr Meders in seiner Wohnung auf maximaler Lautstärke dröhnen ließ, auch für alle anderen Nachbarn durch Türen und Wände hinweg zu hören. Nicht so seit Samstag. Ja, bei genauer Überlegung muss es am Samstag gewesen sein, dass sie das letzte Mal etwas von seinem Fernseher hörten.
Als sie dann heute Morgen mal an seiner Wohnung klopften, um nachzuhören, hätten sie keine Antwort bekommen. Die Behrendts von gegenüber riefen die Feuerwehr. Die fragten nach, ob es denn jemanden gäbe, der einen Schlüssel hat. Natürlich gab es jemanden, der einen Schlüssel hat: Udo Meders, sein Bruder. Seit Jahren kam er zu Besuch. Udo brachte Essen und Getränke, die Klaus nicht trank. Klaus ließ sich von der Pizzeria Lupo immer zwei Flaschen Chianti nach Hause liefern. Ein Pizzalieferdienst, der für Klaus eigentlich nur Alkohollieferdienst war.
Bis in den Supermarkt kam er nicht mehr und irgendwie musste er sich den Alkohol ja besorgen. Manchmal bestellte er sich als Alibi eine Pizza dazu. Die zugehörigen Pizzakartons stapelten sich in der Wohnung und wurden in unregelmäßigen Abständen von Udo gemeinsam mit großen Mengen Glasflaschen entsorgt. Überhaupt bemühte sich Udo seit Jahren, Ordnung in das Leben seines Bruders zu bekommen. Aber der war mit anderen Dingen beschäftigt. Klaus war im Jetzt gefangen, unfähig, einen Plan für morgen zu machen. Er hätte Hilfe gebraucht. Hilfe beim Einkaufen, Hilfe bei den Rechnungen, Hilfe beim An- und Auskleiden, Hilfe bei der Körperpflege, Hilfe überall. Hilfe hätte für ihn bedeutet, sich eingestehen zu müssen, dass es allein nicht mehr geht. Klaus verweigerte bis zuletzt jede Hilfe. Einzig seinen Bruder tolerierte er in seiner Nähe. Niemand sonst kam in seine Wohnung. Außer die Maden und die Fliegen, die fanden einen Weg.
Klaus hingegen bewegte sich im Wesentlichen nur noch hin und her zwischen Couch und dem, was mal ein Ledersessel war und auf dem sich jetzt ein platt gesessenes Schichtwerk aus Pizzakartons, Körperflüssigkeiten, Essensresten und Tabakresten türmte. Udo startete unzählige Versuche, Ordnung in Klaus Leben zu bringen. Zuletzt wurde Klaus der Strom abbestellt, weil zu viel Geld an Pizzeria und den 10€-Wein ging, aber zu wenig an die Stadtwerke. Udo regelte. Udo telefonierte, organisierte im Hintergrund, vermittelte zwischen Schuldnern und Banken und sorgte so für Ordnung in Klaus’ Leben.
Klaus war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht merkte, wie er ohne Udo wahrscheinlich schon vor Jahren einfach gestorben wäre: über den sich auftürmenden Müll gestürzt, Schenkelhalsbruch, Tage später gefunden. Das wäre das Ende einer mittlerweile durchaus üblichen Biografie in deutschen Städten. Aber nicht so bei Klaus. Sein Leben war wie ein Turm aus Holzklötzen. Während Klaus auf der einen Seite Steine rausnahm, versuchte Udo gleichzeitig, die entstehenden Lücken zu stopfen und so den Turm vor dem Einsturz zu bewahren. Auch das mit den Stadtwerken hatte Klaus erst vor wenigen Wochen geregelt. Der Strom war wieder da. Aber dieses eine Mal konnte er den Zusammensturz nicht verhindern.
Niemand weiß, ob er leise dahin sank oder ob es einen Knall gab, als Klaus zu Boden ging. Und so lag er da, zwischen Couch und Couchtisch, den Bauch auf dem Boden, die Beine lang ausgestreckt, den Kopf etwas zur Seite gedreht. Eigentlich sah es so aus, als wenn er etwas unter dem Sofa gesucht hätte.Er lag inmitten von seinen Ausscheidungen, den leeren Weinflaschen und den Essensresten. Zwischen den frischen Lebensmitteln, die Udo noch vor wenigen Tagen besorgt hatte. Sein Bruder braucht ja auch mal Vitamine. Klaus hatte nichts davon angerührt.
Als wir vom Rettungsdienst die Wohnung betraten, schlug uns ein Geruch entgegen, den man – einmal gerochen – nie mehr vergessen kann. Es ist wie mit Marihuana: Weiß man, dass der Geruch nach altem Schweiß Marihuana ist, riecht man es überall. Genauso ist es auch mit Leichen. Süßlich und faulig zugleich, penetrant muffig. Eine immer unangenehme Mischung zwischen feuchter Erde und verfaultem Käse, die sich sofort in allen Kleidungsstücken festsetzt. Ein Geruch, der sagt: Hier braucht es kein EKG und kein Stethoskop. Hier ist ein Mensch gestorben – und zwar schon vor einigen Tagen.
Da steht also Udo, in dem, was mal das Wohnzimmer seines Bruders war. Er begrüßt uns nicht – nein, er rechtfertigt sich sofort für das Chaos und den Müll und erzählt, was er noch alles habe machen wollen. Ihm ist es unangenehm, dass sein Bruder in dieser entwürdigenden Art, halb entblößt, stinkend und verdreckt da liegt. Er schämt sich für die ganze Situation; es ist ihm furchtbar unangenehm.
Und nach dieser jahrelangen Odyssee, der nicht enden wollenden Irrfahrt seines Bruders – leider ohne die glückliche Heimkehr – sage ich ihm das, was mir in dem Moment als Erstes in den Sinn kommt: In vielen Details dieser vermüllten Wohnung sieht man, dass Udo seinen Bruder bis zuletzt lieb hatte. Er hatte seinen Bruder nicht fallen lassen. Diesen Bruder, mit dem sonst niemand mehr etwas zu tun haben wollte. Und ich sage ihm, dass es mich zutiefst berührt, wie liebevoll er sich um seinen Bruder gekümmert hat. Und wie viel Gutes er in das Leben von Klaus gebracht hat.
Das ist der Moment, als etwas in Udo aufbricht. Er schluchzt, wird von Trauer durchschüttelt und lässt nach kurzer Zeit den Tränen freien Lauf. Es kommt alles aus ihm raus. Alles, was sich in den letzten Jahren aufgestaut hatte.
Es ist so Vorgabe in unserer Stadt, dass wir bei einer Leiche im Rettungsdienst immer die Polizei hinzurufen – ich hatte das schon mal in anderen Artikeln erklärt. Und so saßen wir dort noch eine Weile gemeinsam, warteten auf die Polizei und konnten etwas miteinander reden. Wir sprachen über Klaus und wie er zuerst seine Frau und dann den Rest verlor. Sein Bruder blieb sein Leben lang immer an seiner Seite und versuchte zu retten, was nicht zu retten war und was Klaus auch nicht retten wollte.
Und dann sagte Udo das, was ich mitnehme: Die ganzen Jahre habe er all das gemacht und nie habe sich jemand dafür bedankt. Nie habe jemand gesehen, was er getan hat. Endlich sagt es mal jemand. Dieser jemand war ich. Und ich finde es wichtig, dass wir sowas sagen. Dass wir sagen: ‚Ich sehe dich, ich sehe, was du Großartiges getan hast. Danke für deinen Einsatz! Danke, dass du diesen Menschen nicht hast fallen lassen.‘
Ich weiß nicht, ob Klaus das jemals sagen wollte, aber nicht die Kraft dazu hatte. Aber Udo hatte es jetzt gehört. Jemand hatte seine Mühen gesehen, Danke gesagt und in all der Trauer war das ein sehr versöhnlicher Moment.
Bildquelle: Meg Aghamyan, Unsplash