Das Pärchen vor mir möchte nach Südamerika verreisen. Sie wollen ihre Reiseimpfung bei mir abholen – aber einem der beiden muss ich für die Gelbfieber-Impfung eine Absage erteilen. Der Grund erstaunt sie.
Ich finde es immer wieder beeindruckend, zu sehen, welche Fortschritte die Medizin in den knapp 20 Jahren, die ich jetzt als Ärztin tätig bin, gemacht hat. Es hat sich in manchen Dingen wirklich extrem viel getan – vor allem in Bezug auf Immunmodulierende Therapien. Aus der Onkologie und Rheumatologie sind diese Therapien aus gutem Grund faktisch nicht mehr wegzudenken: Die Lebensverlängerung bzw. Verbesserung der Lebensqualität ist für die allermeisten Patienten ein Segen.
Ich erinnere mich noch gut an eine geniale Fortbildung zum Thema Immuntherapie, die ein onkologischer Kollege vor ein paar Jahren im Rahmen einer hausärztlichen Fortbildung gehalten hat. Der Vortrag selbst war gar nicht so lang, aber drehte sich extrem praxisorientiert darum, wann wir Hausärzte in Bezug auf die Immuntherapie wachsam sein müssen. Und, dass eben alte Grundsätze wie „Naja, nach der Chemo ist der Patient müde“ bei Immuntherapien nicht mehr gelten und man dann stattdessen schnell fragen muss: Handelt es sich um eine Autoimmun-Thyreoiditis?
Das hat mir kurze Zeit später sehr geholfen, als einer meiner Patienten (nach begonnener Immuntherapie bei Bronchialkarzinom) aus der Uniklinik geschickt wurde. Die Maßgabe war, dass ein Schilddrüsenknoten, der seit Jahren bekannt war und schon mehrere Kontrastmittel-Expositionen hinter sich hatte wegen der durchgeführten CTs, jetzt plötzlich ein dekompensiertes Schilddrüsenadenom mit Hyperthyreose sei. Ich fand das etwas ungewöhnlich und musste an den Vortrag denken. Im Schilddrüsensono zeigte sich dann auch, dass nicht der Knoten verstärkt durchblutet war, sondern eher die gesamte Schilddrüse vor Hyperperfusion zu leuchten schien.
Ich kam mir schon ziemlich schlau vor, als ich dann die Schilddrüsenantikörper angemeldet hab – und machte emotional eine Bauchlandung, als es hieß „TRAK- und TPO-negativ“. Seltsam – dabei war ich mir doch sooo sicher gewesen. Aber glücklicherweise konnte mir der Onkologe, den ich in meiner Verwirrung anrief, weiterhelfen: Richtiger Gedanke, aber es handelt sich wohl oft um andere Antikörper, die ich im Blut nicht ohne weiteres nachweisen könne. Seine Prognose, dass die Schilddrüse innerhalb kürzester Zeit „ausbrennen“ würde und ich zeitnah mit L-Thyroxin anfangen müsse, fand ich dennoch überraschend.
Sie stellte sich aber als korrekt heraus und so konnten wir frühzeitig reagieren. Der Patient nimmt immer noch seine Immuntherapie und ist trotz seines letztlich nicht heilbaren Bronchialkarzinoms jetzt seit ca. 4 Jahren stabil. Das ist immer wieder beeindruckend und freut mich sehr. Nein, damit kann man nicht alles heilen, aber die meisten haben schon eine deutliche Lebensverlängerung bei meistens recht guter Lebensqualität.
Aber bei allen positiven Effekten: Ein großer Haken ist das Geld: Nach allem, was ich bisher gehört habe, kosten Immuntherapien schnell mal über 80.000 Euro, andere gehen sogar von 150.000 Euro aus. Das ist schon ein Faktor, über den man reden muss und weshalb inzwischen teilweise Spendenaufrufe gestartet werden. Ich weiß da keine Lösung. Bei vielen Patienten lässt sich damit zumindest für eine längere Zeit das Voranschreiten zum Stillstand bringen, was aus gesundheitlicher Sicht ein absoluter Segen ist.
Gleichzeitig gibt es aber keine „Gegenfinanzierung“; weil die meisten unserer Patienten unter Immuntherapie nicht (mehr) arbeiten – entweder, weil sie bereits im Ruhestandsalter sind, oder weil es nicht mehr geht. Damit muss das Ganze aber von den Beitragszahlern finanziert werden – und das wird auch nicht ewig gut gehen.
Wobei noch ein anderer Faktor dazu kommt, der Kosten treibt: der autoimmun/rheumatologische Bereich. Wir haben immer mehr Patienten mit z. B. Morbus Crohn, aber auch mit Psoriasis, Asthma oder Neurodermitis, die eine Immuntherapie bekommen (sollen). Denn das bedeutet (so brutal das jetzt klingen mag), dass wir nicht wie im Fall einer Krebserkrankung oft eine begrenzte Dauer haben, sondern letztlich für die nächsten Jahrzehnte eine Immuntherapie planen und finanzieren müssen.
Die Patienten sehen in der Immuntherapie häufig ein Medikament wie jedes andere auch. Das ist einerseits schön, weil es ja auch für die gute Verträglichkeit spricht, aber gerade, wenn das so an uns vorbeigeht („Ich nehm das jetzt schon seit 3 Monaten, ist der Arztbrief nicht angekommen?“), schaffen wir es dann häufig nicht, die empfohlenen Impfungen vorher durchzuführen. Und meines Wissens ist gerade die Pneumokokkenimpfung wirklich wichtig, auch wenn wir glücklicherweise bislang noch keine Komplikationen diesbezüglich hatten.
Ich gehe aktuell dazu über, jungen Männern bereits bei der Erstdiagnose eines Morbus Crohns recht zügig zu sagen, dass sie bitte beim Thema Immuntherapie (wenn irgendwie von regelmäßigen Spritzen oder Infusionen die Rede ist) sofort nach Impfungen fragen sollen und ich mir eine Liste wünschen würde, welche Impfungen gewollt sind. Das ist nämlich interessanterweise auch unterschiedlich bei den verschiedenen Kollegen. Pneumokokken sind normalerweise gesetzt, alles andere variabel.
Was ich emotional sehr schwierig finde: Ich führe in unserer Praxis auch Reiseberatungen durch und wir sind Gelbfieberimpfstelle, weshalb uns teilweise Patienten gezielt zur Gelbfieberimpfung zugewiesen werden. Ich hatte jetzt zweimal die folgende Konstellation: Ein Pärchen möchte in den Urlaub fahren, der Urlaub ist gebucht, Südamerika ist dieses Jahr ein gern genommenes Reiseziel – gern mehrere Länder, die Gelbfieberimpfung wurde in der hausärztlichen Reiseberatung empfohlen, daher kommen die Patienten ja. Und dann kommt im Gespräch raus, dass ein Partner immunsupprimiert ist.
Und dann? Die Gelbfieberimpfung ist als Lebendimpfung in der Konstellation kontraindiziert, Pausieren der Immunsuppression ist ggf. weder zeitlich noch medizinisch machbar – und die Immunsuppression wirkt sich ja auch auf das Erkrankungsrisiko aus! Dann sitze ich vor den Patienten und muss behutsam erklären, dass ich in der Konstellation nicht impfen kann. Und gefühlt fallen die Patienten aus allen Wolken, wenn man sagt „Die Spritze, die Sie alle 4 Wochen nehmen, schwächt Ihr Immunsystem so stark, dass die STIKO sagt, dass man dabei keine Lebendimpfung geben kann. Ich kann Sie daher leider nicht impfen.“
Es fühlt sich an, als wäre das die erste Situation, in der erwähnt wird, dass das eben nicht „nur eine Spritze“ ist. Und nein, dabei geht es nicht immer nur um den Stempel im Pass. Den Leuten wird in dieser Konstellation erstmalig klar, dass ggf. auch Infekte durch die Immunsuppression schwieriger zu bekämpfen sein könnten – also dass die superverträgliche Therapie (die ja auch immer früher und breiter eingesetzt wird) relevante Nebenwirkungen haben kann. Da frage ich mich schon, was bei der Aufklärung schiefläuft. Verdrängen die Patienten das so sehr oder ist auch beim medizinischen Personal dafür kein Bewusstsein vorhanden? Bin ich vielleicht zu altmodisch und die Vorsichtsmaßnahmen sind nur aus juristischen Gründen so hoch, dass es nicht empfohlen wird, aber eigentlich möglich wäre?
Ich fühle mich dann auf jeden Fall immer sehr unwohl und würde mir eine intensivere Aufklärung wünschen – denn bei aller guten Verträglichkeit und den tollen medizinischen Erfolgen, die mit der Immuntherapie möglich sind: Sie sind keine Bonbons, sondern hochwirksame Medikamente. Und genau so sollten wir sie auch behandeln.
Bildquelle: Rapha Wilde, Unsplash