Künstliche Intelligenz ist auch im Rettungswesen angekommen – ob uns das gefällt oder nicht. Doch KI-Systeme können weder mit Erfahrung noch Intuition punkten. Wann ich sie trotzdem nutze und wo ich die Grenze ziehe, lest ihr hier.
Vor dem Haus parkt ein Kleinwagen, das Nummernschild halb von Laub bedeckt. Ein Hund bellt hinter der Tür, Sommerregen fällt. Ich nehme den Rucksack, der Kollege unser EKG und den Sauerstoffrucksack. Im Flur liegt ein Teppich, so alt, dass er mehr Geschichten kennt als die Nachbarn. In der Luft hängt der Geruch nach abgestandenem Kaffee, nach Leben und nach langen Nächten, die zu langsam vergangen sind. Im Wohnzimmer sitzt er: schmal, graues Haar, eingefallene Wangen, blasse Haut, die an nasses Pergament erinnert. Er hält sich am Lehnstuhl fest, als könnte ihn die Schwerkraft sonst auflösen. Seine Frau steht dahinter, faltet die Hände, als wolle sie beten.
„Herr Meyer, können Sie mir sagen, was passiert ist?“ X augenscheinlich unauffällig. Er ist blass. Sein Blick tastet mein Gesicht ab und wandert zu seiner Frau. „Heute Vormittag hatte ich Brustschmerzen – so eine Art Druck. Ich kann das schlecht beschreiben, denn so etwas hatte ich noch nie.“ Das angeklippte Pulsoxy zeigt eine Sauerstoffsättigung von 96 Prozent, normale und rhythmische Herzfrequenz. A und B sind unauffällig. Die Frau nickt im Takt seiner Worte. Ich begrüße ihn dazu mit Handschlag und taste mit meiner anderen Hand den gut tastbaren Puls. Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn, aber im Zimmer ist es auch warm.
Ich lasse mir die Medikation zeigen: ein Antihypertonikum, ein Statin, dazu ein Antidiabetikum. Kein Fieber. Er hatte noch nie einen Herzinfarkt. Kein konkretes C-Problem also, aber vor kurzem Brustschmerzen. Ich werfe einen Blick auf den Kollegen – er nickt und nimmt beide Kabelbäume aus dem EKG-Gerät. Ich erkläre, was kommt. Die Elektroden kleben wir auf die Brust, einen Teil auf die Extremitäten, das Gerät fährt hoch. Die Leitlinien sind eindeutig: Ein 12-Kanal-EKG sollte so bald wie möglich, jedoch innerhalb von maximal 10 Minuten geschrieben und interpretiert sein.
Grüne Linien auf schwarzem Hintergrund wandern über das Display. Ein guter Meter Papierstreifen schiebt sich aus dem Gerät. Ich gehe von Ableitung zu Ableitung. In V2–V4 ist etwas. Sogar recht auffällig für meinen Geschmack – eine charakteristische biphasische Konfiguration der T-Welle. Es ist nur eine zarte Veränderung, als hätte der Schmerz mit Bleistift einen Schatten in den Rhythmus gemalt. Der Algorithmus aber schweigt. „Sinusrhythmus steht da drauf“, liest mein Kollege vor, der immer noch hofft, die Technik funktioniere irrenlos.
Der Algorithmus ist ein Interpretationsalgorithmus für Elektrokardiogramme, der sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern verwendet werden kann und mittlerweile Anwendung in einer ganzen Reihe von Geräten findet. Der Algorithmus kann auch zur Unterstützung bei der QTc-Messung und der Bewertung des kardialen Risikos beitragen. Im Unterschied zu moderner Künstlicher Intelligenz handelt es sich bei dem verwendeten Algorithmus jedoch um einen klassischen, regelbasierten Algorithmus: Er folgt festen, vorgegebenen Entscheidungsregeln und ändert sein Verhalten nicht durch Erfahrung oder neue Daten. Das bedeutet: Der Algorithmus bewertet EKGs immer nach denselben, nachvollziehbaren Kriterien, ohne aus Beispielen zu lernen oder sich an neue Muster anzupassen.
KI-Systeme wie das meiner App gehen einen Schritt weiter: Sie analysieren EKGs mit Hilfe lernender Modelle, die auf großen Mengen von Beispieldaten trainiert wurden. Sie können dadurch auch subtile, untypische Muster erkennen, die nicht explizit programmiert wurden – sind aber gleichzeitig anfälliger für Fehler, etwa durch fehlerhafte Trainingsdaten. Irgendwie spüre ich, wie sich alles in mir gegen den Text auf dem Ausdruck stemmt, der nicht mit dem EKG-Bild korreliert. Ich sehe den Patienten und mein Bauchgefühl meldet sich zu Wort, denn nicht irgendein Algorithmus fährt diesen Patienten ins Krankenhaus, sondern ich.
Ich greife nach dem Handy, öffne die App zur EKG-Diagnostik und komme mir kurzzeitig schäbig vor, so etwas anzuwenden, habe ich diese App doch nur durch Zufall als Testversion installiert, um alte EKGs aus meinem Bestand analysieren zu lassen. CRM-Grundsatz Nummer sechs besagt aber, ich solle alle Ressourcen verwenden, die mir zur Verfügung stehen. Also was sollte schon passieren, außer dass das Programm der Interpretation des EKG recht gibt? Ein kurzer Schnappschuss also, das EKG als Bild in mehreren Teilen hochgeladen. Die Frau schaut mich an, als würde sie den Ausgang einer Lotterie erwarten. Dann erscheint die Analyse. „Anzeichen von STEMI/STEMI-Äquivalent erkannt.“ Mein Kollege schweigt, ich nicke nur.
Die nächsten Minuten laufen im Modus des ACS-Algorithmus: intravenöser Zugang, Aspirin, Heparin, Morphin. Beruhigung für die Frau. Ich melde ein Sonderbett für einen STEMI-Patienten und die Bereitschaft eines Herzkatheterlabors an. Der Rettungswagen frisst die Kilometer, Blaulicht tanzt auf nasser Straße.
In der Notaufnahme wartet schon das Team, das den Patienten übernimmt. Die Aufnahmeärztin fragt nach dem Verlauf. Ich lege den EKG-Streifen, mein Protokoll und die Medikamentenliste auf den Schreibtisch. Kurzes Nicken. Dann verschwindet der Patient auf dem Bett ins Katheterlabor, die Türen schließen sich. Draußen schaut mich mein Kollege an, die Augen fragen nach Erklärung. „Manchmal muss man der eigenen Unruhe vertrauen“, sage ich, „Nicht jeder Schatten auf dem Papier ist harmlos.“
Eine Stunde später kommt der von mir erbetene Rückruf mit Informationen: „Volltreffer. RIVA-Stenose.“ Ich blicke zurück auf das Gerät, das selbstzufrieden in der Halterung hängt. An diesem Morgen hatte ich keinen Computer gegen mich, sondern die Gleichgültigkeit eines Systems, das alles nach Schema beurteilt. Und ich hatte das Glück, es nicht zu glauben.
Mein zweiter präklinischer Einsatz einer KI verlief allerdings weniger ergiebig. Ein 25-jähriger Patient rief uns mitten in der Nacht. Er habe so schlimme Bauchschmerzen und wüsste sich nun nicht mehr zu helfen. Auch leide er an einem Morbus Crohn und habe öfter mal rechtsseitige Bauchschmerzen. Aber aktuell helfe nichts mehr. Ich konnte in diesem Moment nichts anderes tun, als dem Mann intravenös ein Analgetikum zu verabreichen und ihn in die Klinik zu transportieren.
Auf der Fahrt bildeten die Symptome einige Verdachtsdiagnosen in meinem Kopf. Naheliegend war ein Morbus-Crohn-Schub, aber eben auch eine Appendizitis. Die Nierenlager waren frei, das Epigastrium (druck-) indolent, ebenso der Bereich der Galle. Lanz und McBurney zeigten sich negativ, Rovsing und Blumberg dagegen leicht positiv. Der Mann hatte kein Fieber – 36,9 °C aurikular. Eigentlich war für mich der Fall klar – Zeichen einer Appendizitis, womit wir den Mann auch in der Klinik ankündigten.
Doch diesmal, aus Neugier und wegen des Trends zu digitalen Tools, tippte ich die Symptome und auch meinen Verdacht in eine KI auf meinem Handy ein. Die KI spuckte gleich mehrere irritierende Verdachtsdiagnosen aus:
Einen kurzen Moment lang überkamen mich ein kühler Schauer und auch Zweifel, weil mir die KI viel mehr vorschlug, als ich selbst in Betracht gezogen hatte. Aber Gallensteine? Bei einem druckindolenten rechten Oberbauch? Ich merkte, wie ich mich fast von der KI beeinflussen ließ und den Blick für das Offensichtliche verlor. Doch der Schmerz saß klassisch im rechten Unterbauch, die Symptome sprachen Bände.
Ich entschied mich also trotz der KI für einen zügigen Transport mit Verdacht auf Appendizitis und informiere die Klinik. Vor Ort bestätigte sich mein Verdacht: Der Mann hatte eine akute Appendizitis, die Anmeldung war korrekt, mein Vorgehen ebenfalls. Was aber, hätte ich mich heute mehr von der App als von meinen Händen, Augen und meinem Bauchgefühl leiten lassen? Auch die Vorstellung, in der Klinik einen Schockraumalarm auf Geheiß einer KI auszulösen, erzeugt in mir ein komisches Gefühl des Kontrollverlustes.
Die KI reicht uns Werkzeuge, doch sie tastet weder den Puls, noch riecht sie kalten Schweiß oder kennt die Ahnung, die sich leise in den Hinterkopf schleicht. Technik mag Ordnung ins Chaos bringen, doch Leben ist selten geordnet, denn es irrt, zögert und täuscht auch. Forscher haben inzwischen erkannt, dass unser Denken nicht mehr nur intuitiv oder analytisch funktioniert, sondern dass eben die Künstliche Intelligenz hinzugekommen ist: gewissermaßen eine „externe Festplatte fürs Gehirn“, welche zwar enorme Datenmengen aufbereitet, aber zwingend menschliche Interpretation braucht, damit aus Information Erkenntnis wird.
Gerade deshalb braucht es mehr als Routine: die Bereitschaft, der eigenen Wahrnehmung zu ver- und der KI an sinnvollen Stellen zu misstrauen – und genau das bewahrt unsere Fähigkeit zum autonomen Denken und zur Innovation. Vielleicht ist unser wichtigstes Handwerk heute das Zweifeln und Bewahren kritischer Distanz gegenüber einer Künstlichen Intelligenz, die wir nutzen, ohne uns von ihr vereinnahmen zu lassen. Denn solange Herzschlag und Bauchgefühl noch sprechen, bleibt der Mensch der Übersetzer zwischen Signal und Sinn.
Bildquelle: Redd Francisco, Unsplash