Stille, Atemgeräusche, Stille: Ist das Gegenüber besonders wortkarg, füllen die eigenen Gedanken den Raum. Nicht auf alle davon bin ich stolz – für manche schäme ich mich. Therapeuten sind eben auch nur Menschen.
Stille. Eine bleierne Bewegungslosigkeit liegt tonnenschwer über dem Gespräch, als müsse man ein Gebirge auf den Schultern tragen. Die Atmosphäre im Raum ist so dicht, dass man sie in Scheiben schneiden könnte. Ich kämpfe gegen eine übermächtige Müdigkeit, die von meinen Augenlidern Besitz ergreifen will. Kaum eine andere psychische Erkrankung hängt so fassbar und lähmend mächtig im Raum wie die Depression.
Herr Kara atmet einmal schwer durch. „Für meine Familie besser, ich tot.“ Jedes Wort wird einzeln betont. In den vielen Jahrzehnten, die er in Deutschland lebt, hat sich in seiner Sprache der typisch inkorrekte, wenngleich pragmatische Wortlaut verfestigt, den man von vielen älteren Zuwanderern kennt.
Ich betreue ihn deutlich länger als die meisten meiner Klienten. Herr Kara hat innerhalb der U-Haft einen Herzinfarkt erlitten, hat sich in der Klinik einen multiresistenten Keim eingefangen und in der Folge beinahe sein Bein verloren. Es folgte ein Schlaganfall mit massiven neurologischen Ausfallerscheinungen. Die Haft wurde unterbrochen und nach seiner Reha wieder aufgenommen. Nach sechs Monaten konnte er wieder sprechen, aber landete im Rollstuhl und hatte den Großteil seiner Alltagsfähigkeiten eingebüßt. Das strafrechtliche Verfahren war kompliziert, Herr Kara wollte sein Urteil nicht annehmen und ging in eine Endlosrevision.
Heute – vier Jahre später – ist das Urteil wegen Betruges rechtskräftig und seine Haftzeit neigt sich bereits dem Ende. Genau wie meine Therapiemotivation. Woche um Woche um Woche ringe ich um die Wahrung von Professionalität. Herr Kara betont immer wieder, welch große Hilfe ich ihm sei. Ich habe das Gefühl, ich bewirke gar nichts.
Der heute 58-Jährige Türke war vor seiner Inhaftierung bereits depressiv. Durch die Krankheit, die lange Zeit der Ungewissheit und die Trennung von seiner Familie, haben sich die dunklen Wölkchen inzwischen zu einer mittelschweren Depression manifestiert. Psychopharmaka verweigert er. Er ist ein Türke vom alten Schlag. Ein stolzer Mann, wie er immer betont – während er in Schräglage, körperlich völlig zerstört, in seinem Rollstuhl hängt.
„Sie wissen, dass Ihre Familie nicht möchte, dass Sie tot sind, Herr Kara. Ihre Frau schreibt Ihnen jeden Tag.“ Herr Kara hat drei Frauen. Alle wissen voneinander. Unsere Bediensteten finden das schräg. Ich auch. Weil es nicht unseren Normvorstellungen entspricht und weil Herr Kara nicht wirklich das ist, was man als Frauenmagnet bezeichnen würde. Alt, graue Haare, graue Haut. Seine spindeldürren Arme wachsen auf absurde Weise seitlich aus seinem rundlichen Körper. Es wirkt, als habe er keine Schultern. Einer seiner Arme hat inzwischen seine Muskelfunktion eingebüßt, was ihn wie einen kaputten Scheibenwischer im 90-Grad-Winkel an seinem Körper herumbaumeln lässt. Ein Bein ist mit weißen Klettbändern am Rollstuhl fixiert, da es sonst ständig von der Stütze rutscht. Inzwischen trägt Herr Kara Windeln.
„Meine Tochter so geweint bei letzte Besuch, ich träume sie jede Nacht!“ sagt Herr Kara. „Und da können Sie sich vorstellen, wie es ihr gehen würde, wenn Sie gar nicht mehr da wären“ antworte ich. „Besser. Einmal weinen richtig, dann gut. Jetzt immer weinen.“ Diese Argumentationskette führt nirgendwo hin. Wie eigentlich jede Argumentation, die man versucht mit einem Depressiven zu führen. „Sogar die Wetter weint!“ Es regnet. Ich muss lächeln. Stille.
Als Therapeut kann man eine Depression physisch spüren. Sie macht einen müde. Trägheit und Aggression gegen den Klienten geben sich die Klinke in die Hand. Er WILL sich auch nicht besser fühlen, schießt durch meinen Kopf, während ich versuche, ihm wache und liebevolle Aufmerksamkeit zu vermitteln. Ich hab auch keine Lust mehr. Wir kommen seit Jahren nicht vorwärts. Mein Kopf macht sich selbstständig, ich muss das schnell in den Griff kriegen. Was sag ich jetzt? Egal, was ich sage – er weiß ja eh was Negatives drauf zu erwidern. Ich halte die Stille aus, denn Lösungsvorschläge, das lernt man schnell, gehen bei einem Depressiven nach hinten los. Ich muss den Vollzugsplan vom Muffat noch machen und beim Haunschild muss ich auch noch vorbei, da hat mich der Kollege vorhin angerufen… Ich drifte ab. Schnell diszipliniere ich mich.
Authentisch bleiben. Kongruenz herstellen, erinnere ich mich. Das würde aber bedeuten, dass ich Herrn Kara mitteile, wie sehr mich das Gespräch anstrengt. Dazu habe ich nicht die Kraft. Nicht im Moment, vielleicht beim nächsten Mal. Jetzt einfach weiter aushalten. Lieber einfach nichts machen. Übertragung: Die Trägheit des Patienten wird zu meiner eigenen. Bevor wir in eine von völliger Passivität und Antriebslosigkeit durchzogenen Gegenübertragung rutschen, unternehme ich einen Versuch der Aktivierung.
„Wie sind Sie denn mit dem Traumtagebuch klargekommen, das wir letzte Woche besprochen haben?“ Herr Kara klagte vermehrt über Alpträume, also gab ich der Sache vor 14 Tagen eine Chance. „Ich habe nicht geschafft.“ War klar, schießt es mir durch den Kopf, da müsste man sich ja auch mal ein bisschen bewegen – in der warmen Brühe der eigenen Traurigkeit zu baden ist da leichter. Sofort schiebe ich den Gedanken mit einem inneren strafenden Blick an mich selbst beiseite und frage nach, woran es denn gescheitert sei. „Hand tut weh wenn ich viel schreibe und Stift halte. Und dann wollte ich einmal machen und dann habe ich Papier geschmissen und keine Lust mehr.“ Ich kann es mir bildlich vorstellen.
Herr Karas Augen füllen sich. Wie kleine Pfützchen auf einer Teerstraße, wenn es regnet. Wütend wischt er mit seiner guten Hand die Träne weg und schüttelt heftig den Kopf. Er wäre gerne anders: stärker, aufrechter. Aber er sitzt in Windeln vor mir im Rollstuhl und weint.
Wieder Stille. So dunkel und schwer, dass man kaum noch aufrecht sitzen kann. „Sie Mittwoch da? Ich mach Börek. Käsebörek.“ Seine Miene erhellt sich. Ab und zu kochen die Gefangenen in der Gemeinschaftsküche. Manche haben Einkauf und können sich einige Lebensmittel, Kaffee und Tabak beim sogenannten Kaufmann bestellen. Auf manchen Gängen tut man sich dann zusammen und kocht gemeinsam. „Das klingt ja super“, lüge ich, denn in Wahrheit bekomme ich Brechreiz bei dem Gedanken an abgepackte, aufgewärmte Fleischreste ungewisser Herkunft, die mit orangefarbenem Industriekäse überbacken werden.
„Ich ess‘ ja leider kein Fleisch, aber ich schau auf jeden Fall mal bei Ihnen vorbei.“ Die Gefangenen bieten uns häufig etwas zu essen an. Kuchen, Süßigkeiten und Selbstgekochtes. Natürlich dürfen wir das nicht annehmen. Man könnte versuchen, uns zu vergiften. Oder mit einem Käsebörek bestechen. Natürlich nehmen wir manchmal dennoch ein Stück Kuchen an. Herr Kara lächelt: „Ich wurde mich freuen, wenn Sie kommt.“ Ein Lichtblick. Sofort werde ich wacher.
„Ich jetzt lieber gehe meine Zelle. Ich will Sie nicht die Zeit stehlen.“ Mist. War das jetzt eine Phrase, will er mehr Aufmerksamkeit provozieren oder hat am Ende doch die Gegenübertragung gekickt? Unsere Zeit ist eh fast um und eigentlich war das mit dem Käsebörek ein schönes Schlusswort. „Kann ich denn heute noch irgendwas für Sie tun, Herr Kara?“ „Nein. Haben Sie schon viel getan. Ich spreche sie und immer geht besser. Danke echt.“
Ich freue mich ein bisschen. Und gleichzeitig klopft ein kleines Schuldgefühl an die Tür – ob meiner gehässigen Gedanken, denen ich in den letzten 30 Minuten nachgehangen bin. Aber ich war da. Beziehungskonstanz und so, versuche ich mein Gewissen zu beruhigen. Und vielleicht ist es tatsächlich das, was dieser Patient braucht: Jemanden, der da ist. Jemanden, der ihn aushält. Jemanden, der zum Käsebörek vorbei kommt – auch, ohne mitzuessen.
Bildquelle: Midjourney