Forscher fanden heraus, dass das weibliche Geschlechtshormon Östradiol bei zwei Monate alten Babys die Weichen für den Spracherwerb stellt. Je höher der Hormonspiegel zu dem Zeitpunkt im Blut ist, desto komplexer sind die für den Spracherwerb essentiellen Melodiemuster im Weinen.
Babys erleben im Alter von gerade einmal zwei Monaten einen Hormonsturm der Sexualhormone Testosteron und Östradiol, der in der Wissenschaft schon seit Längerem bekannt ist. Jungen und Mädchen weisen in dieser Zeit Hormonkonzentrationen auf, die mit denen in der Pubertät und teilweise sogar im Erwachsenenalter vergleichbar sind. Mögliche Auswirkungen dieser nur wenige Wochen anhaltenden „Mini-Pubertät“ auf die frühe Sprachentwicklung waren bislang unbekannt. Wissenschaftler der Universität Würzburg und der Humboldt-Universität Berlin haben hierzu eine neue Erkenntnis gewonnen. Die Medizinische Anthropologin Kathleen Wermke, Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen des Universitätsklinikums (Poliklinik für Kieferorthopädie), konnte gemeinsam mit dem Endokrinologen Volker Hesse der Charité Berlin zeigen, dass ein hoher Östradiolspiegel der Säuglinge im Alter von zwei Monaten in einem direkten Zusammenhang mit den ersten spracherwerbsrelevanten vokalen Leistungen steht.
„In den ersten Monaten ihres Lebens legen Säuglinge wichtige Grundlagen für den nachfolgenden Spracherwerb“, sagt Kathleen Wermke. Noch bevor sie erste Laute gurren oder sich im sprachähnlichen „Babbeln“ ausprobieren, trainieren Babys im Weinen schon melodische Grundbausteine und erzeugen dabei Melodien, die mehr oder weniger komplex sein können. Der Grad der Melodiekomplexität, den sie dabei zeigen, eignet sich gut zur Vorhersage der nachfolgenden Sprachleistungen: Je höher der Anteil komplexer, also zwei- und mehrbögiger, Melodien im Weinen der Babys ausfällt, desto besser können Kinder später Wörter und Sätze produzieren und verstehen. Dieser Zusammenhang gilt allerdings nur für ein bestimmtes Alter: „Wir konnten in einer früheren Studie zeigen, dass die Melodiekomplexität nur geeignet war, die Sprachleistungen mit zweieinhalb Jahren vorherzusagen, wenn man sie im Alter von zwei Monaten bestimmt – nicht im ersten Monat und auch nicht im dritten oder vierten Monat“, sagt Wermke. Über die Gründe für diese zeitliche Eingeschränktheit konnte die Wissenschaftlerin damals nur spekulieren.
Auf die richtige Spur brachte sie die Zusammenarbeit mit dem Berliner Endokrinologen Professor Volker Hesse, der sich schon länger mit der Mini-Pubertät der Säuglinge beschäftigt. Für ihre Studie haben die Forscher 18 gesunden Neugeborenen im Alter von vier und von acht Wochen Blut entnommen und dessen Gehalt an einer Reihe von Hormonen bestimmt. Im gleichen Alter nahmen die Wissenschaftler das spontane Weinen der Babys im Beisein ihrer Mütter auf und analysierten die Melodie der Einzelschreie. Die folgende mathematische und statistische Analyse brachte ein eindeutiges Ergebnis: „Wir konnten einen engen Zusammenhang zwischen dem Gehalt an bioaktivem Östradiol im zirkulierenden Blut der Babys und dem Variantenreichtum ihrer Melodien beim Weinen im Alter von zwei Monaten nachweisen“, fasst Wermke das Ergebnis zusammen. Östradiol ist das biologisch am weitesten verbreitete Geschlechtshormon aus der Gruppe der Östrogene mit weitreichender Bedeutung bei der Gehirnentwicklung. Keinen Zusammenhang fanden die Forscher zwischen dem Testosterongehalt der Babys und dem „Melodierepertoire“ im Weinen.
Natürlich zeigt eine ganze Reihe von Studien, dass Mädchen sprachbegabter sind als Jungen. Das gilt aber nur, wenn man diese Aussage auf einen Durchschnittswert bezieht. Individuell betrachtet gibt es auch viele sprachbegabte Jungen wie es andererseits auch Mädchen gibt, die beim Spracherwerb Schwierigkeiten haben. Das deckt sich mit dem Ergebnis der Studie: „Auch im Blut männlicher Babys finden wir Östradiol. In Einzelfällen kann der Gehalt sogar deutlich über dem durchschnittlichen Wert der Mädchen liegen. Diese Jungen zeigen dann auch im zweiten Monat überdurchschnittlich viele, ausgeprägte melodische Variationen.“
Auf welchen Wegen Östradiol die Entwicklung des menschlichen Sprachvermögens beeinflusst, darüber können die Wissenschaftler momentan nur spekulieren. „Es ist bekannt, dass das Hormon von großer Bedeutung für die strukturelle und funktionelle Organisation des Gehirns ist“, sagt Kathleen Wermke. Dementsprechend spielt es vermutlich auch eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der für den Spracherwerb verantwortlichen spezifischen Gehirnstrukturen. Die Genetik steht im Zentrum eines weiteren Erklärungsversuchs: Von dem Gen Foxp2 ist seit geraumer Zeit bekannt, dass es von zentraler Bedeutung für die Sprech- und Sprachentwicklung ist. Wie jüngste Untersuchungen zeigen, ist dieses Gen bei verschiedenen Lebewesen just bei dem Geschlecht aktiver, das als akustisch kommunikativer gilt. Sexualhormone scheinen bei der Regulation der Genaktivität wesentlich beteiligt zu sein. „Nimmt man diese Ergebnisse zusammen, spricht unserer Meinung nach viel dafür, dass ein besseres Verständnis der Geschehnisse rund um die Mini-Pubertät unser Wissen über die Entwicklung der Sprache und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der frühen Sprachentwicklung deutlich voranbringen könnte“, sagt Volker Hesse. In einer weiteren Studie werden die Forscher deshalb jetzt untersuchen, ob sich der Einfluss von Östradiol auch im Alter von fünf Monaten noch nachweisen lässt. In diesem Alter machen Babys einen entscheidenden neuen Schritt in ihrer sprachlichen Entwicklung – vom melodiösen Lautieren hin zu den ersten silbenartigen, sprachähnlichen Äußerungen im Babbeln. Originalpublikation: Sex hormone influence on human infants’ sound characteristics: melody in spontaneous crying Kathleen Wermke et al.; Biology Letters, doi: 10.1098/rsbl.2014.0095; 2014