Ich stehe im Wohnzimmer des älteren Ehepaars, der Mann liegt blass und leblos vor mir. Ich stelle mir vor, wie seine Frau nachher in der leeren Wohnung zurückbleibt. Ich spüre: Dieser Einsatz wird mich verändern.
Der Tod klingelt nicht. Er huscht unter der Tür hindurch wie der letzte Sonnenstrahl des Tages, hockt sich neben die Standuhr und lauert, bis niemand mehr hinsieht. Dann greift er zu und nimmt sich, was er will.
In jener Nacht machte er es sich in einem Altbau mit stuckverzierter Decke bequem, in einer Wohnung, die nach Möbelpolitur, alten Fotoalben und aufgestauter Hoffnung roch. Es war eine dieser Nächte, in denen das Blaulicht unseres Rettungswagens auf den regennassen Straßen Münchens wie eine Fata Morgana tanzt und in den Fensterscheiben der Altbauten flackert. Der Funk schweigt, der Kaffee schmeckt abgestanden, draußen tropft der Sommerregen von den Kastanien. Dann aus dem Nichts ein Alarm. Ich greife zur Wasserflasche und gönne mir einen Schluck – wer weiß, wann der nächste kommt. Das Adrenalin macht meine Gedanken scharf. Noch weiß ich nicht, wie sehr mich dieser Einsatz berühren wird.
Das Wohnzimmer empfängt uns wie eine Zeitkapsel. Schwere Möbel und vergilbte Bücher, die in Regalen schlafen wie stille Zeugen eines langen Lebens. Ein persischer Teppich, an den Rändern ausgefranst und ausgetreten. Eine Uhr tickt. Der Körper des alten Mannes erstarrt, marmoriert und blass auf dem Parkett, als hätte das Leben selbst die Farben ausgesaugt. Seine Augen offen, der Mund halb. Der Tod hat die Stopptaste gedrückt, alles ist erstarrt – nur die Wärme rinnt langsam aus dem Raum.
Die Frau, der das Leben soeben ihren Mittelpunkt entrissen hat, steht einen Schritt abseits mit ihrem karierten Hausmantel, ihr Blick leer, das Gesicht eingefallen, der Mund wie zu einer stummen Frage verzogen. Ihr Blick streift mich, ohne mich wahrzunehmen, und so verharre ich als Statist in ihrem Albtraum. Ihre Hände klammern sich an den Stoff des Sofas, rutschen ab, weil ihr Rückgrat fehlt. Fünfzig Jahre Ehe – und plötzlich frisst eine Leere jeden Ton. „Er ist einfach nicht mehr aufgewacht“, flüstert sie irgendwann, der Satz verhallt im Raum.
Ich sinke neben ihn, eine Holzdiele ächzt unter meinen Knien. Die Kälte seiner Haut und die Starre seines Unterkiefers fahren mir in die Finger. Mein Kollege greift zum EKG-Kabel, doch mein Kopfschütteln hält ihn zurück. Routine übertrumpft manchmal jede Erkenntnis. Aber auch er weiß insgeheim, dass die Zeit hier längst eingefroren ist. Das Endgültige lässt sich nicht wiederbeleben.
Im Schein der Nachttischlampe erkenne ich die kleinen Dinge, die einen Menschen verraten: die Lesebrille mit den gesprungenen Gläsern, das halbvolle Glas Wasser auf Goethes Faust, die Wasserränder auf dem Buch. Neben dem Sessel liegen auch ein Blutverdünner und noch ein Haufen anderer Medikamente. Einen kurzen Moment schießt mir durch den Kopf, wie man mit so einer Medikation überhaupt so alt werden kann und, dass der Mensch an sich wohl sehr resistent sein muss. Dann aber fällt mir ein Einsatz von damals ein, an dem ich einem 13-jährigen Mädchen erklären musste, dass ihre junge Mutter nach einem Kollaps nun tot am Küchenboden liegt.
Die Minuten tropfen langsam durch den Filter der Zeit. Die Frau beginnt, von langen Abenden zu erzählen und von gemeinsamen Jahren, von Reisen, den Enkelkindern, den Weihnachtsabenden, an denen sie gemeinsam Plätzchen backten und im Radio die alten Schlager liefen. Sie erzählt von seiner Stärke, seiner Sanftheit, und wie ihre Krankheiten und die ihres Mannes nach und nach immer mehr Raum in ihrem Alltag einnahmen. Die Augen der Frau bleiben trocken, aber in ihrem Blick brennt das leise Inferno des Verlusts.
Ich weiß, was sie meint. Ich sehe jeden Tag bei den Einsätzen in irgendwelchen dunklen Wohnungen oder hellen Villen, wie Menschen ihre eigene Gesundheit verspielt haben und alles Geld ausgeben würden, um wieder gesund zu werden. Und dann erzählt die Frau noch vom Ringen mit seinem Herz, den kleinen Siegen und großen Rückschlägen. Sie spricht von seiner Angst, in der Früh nicht mehr aufzuwachen, und auch von ihrer Angst, am Morgen allein zu sein. Jedes Wort ein Stein in dem Rucksack, den sie ab jetzt allein tragen muss.
Während mein Kollege das Protokoll schreibt, lasse ich mich in einen Stuhl sinken und meinen Blick schweifen. An den Wänden Familienfotos, verwackelt, verblasst – aus einer Zeit, als alles noch vor ihnen lag. Die Enkelin mit Zahnlücke, die Goldhochzeit, ein Sommerurlaub am Meer. Lebensläufe, hinter Glas begraben und für immer besiegelt. Ich frage mich, ob meine eigenen Bilder einmal so an einer Wand hängen werden und wer dann vor ihnen steht.
Draußen rauscht ein Bus vorbei, das Licht flackert über den Teppich, ein Hund bellt. Die Welt steht nicht still; das Leben geht unaufhaltsam weiter. Plötzlich durchströmt mich Dankbarkeit für die Nacht und für das Bewusstsein und die Fähigkeit, da zu sein. Ich danke meinem Körper, dass er funktioniert – trotz allem, was ich ihm mein Leben lang zugemutet habe. Ich weiß, ich muss ihn schützen und auf seine Signale achten. Vielleicht brauchte ich diesen Einsatz, um mich daran zu erinnern. Ich blicke aus dem Fenster. Da draußen suchen Menschen Liebe, Anerkennung und Ablenkung von der eigenen Sterblichkeit. Einige wanken aus Bars, schlurfen nach Hause oder taumeln ins Morgen, ohne zu verstehen, dass jeder Tag ein Geschenk ist. Ich sehe mich selbst im Spiegelbild des Fensters, das Gesicht von Schlafmangel und Schichtdienst gezeichnet. Doch hinter den Schatten steht eine Entschlossenheit, die ich nicht mehr verlieren will.
Das Kriseninterventionsteam klingelt und wir verlassen die Wohnung. Im Treppenhaus riecht es nach Bohnerwachs und feuchter Wäsche. Unser Rettungswagen steht draußen unter einer seltsam gelben Lampe, deren Licht surreale Muster auf den Asphalt sprenkelt. Ich steige ein, meine Gedanken taumeln. Mein Kollege dreht am Radio, doch die Musik läuft nur ins Leere. Der Morgen reißt das Dunkel auf, der Himmel ist in zartes Rosa getaucht, als wolle er ein neues Kapitel eröffnen. In der Wache ziehe ich meine Jacke aus, spüre, wie der Schweiß am Rücken klebt und die Müdigkeit in meine Glieder kriecht. Doch mein Geist ist wach wie lange nicht mehr. Ich trinke einen Schluck frischen Kaffee, atme tief – ich lebe.
Bevor ich nach Hause gehe, denke ich noch einmal an die Frau zurück. Ich stelle mir vor, wie sie später in der leeren Wohnung sitzt, vielleicht Kaffee kocht, vielleicht am Fenster steht, vielleicht weint oder einfach nur schweigt. Ich wünsche ihr, dass sie Trost findet, dass sie nicht vergisst, dass sie geliebt hat und geliebt wurde. Und mir wünsche ich, dass ich nie vergesse, wie wertvoll dieses Leben ist.
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