Staatliche Bürokratie ist nichts für schwache Nerven – oder Ungeduldige wie mich. Wie Prinzipienreiterei Zeit und Nerven vergeudet und einen Brief über 200 Euro kosten lässt.
Für die Arbeit beim Staat im Allgemeinen und im Vollzug im Speziellen braucht es ein gewisses Maß an Stoik und Phlegmatismus. Man sollte sich gut in hierarchischen Systemen bewegen und festgefahrene Strukturen sowie gelegentlichen Stillstand akzeptieren können. Nichts davon ist mir zu eigen – ich kann mich schwer mit unsinnigen Dienstvorschriften, kopfstarren Regelungen und „Des hamma scho immer so g’macht“ arrangieren. Kampf und Kontra ist mein Überlebensmodus; in mir brennt der Wunsch, dysfunktionale Systeme zu verbessern (deshalb wohl meine Berufswahl). Das macht mich in diesem seit Jahren gereiften Ökosystem der Ineffizienz nicht besonders beliebt.
Der Gefangene Sapori will Kontakt zu seiner Familie. Ich erkläre ihm in einem ungefähr fünfzehnminütigen Gespräch, dass er keine Telefongenehmigung hat, ergo zur Kontaktaufnahme nur Briefe schreiben kann und die Briefe durch uns frankiert werden, sofern er selbst kein Geld dafür hat. Mein Brutto-Stundenlohn liegt bei ungefähr 37 Euro, macht also zirka 10 Euro. Er tut dies nach meinen Anweisungen, der Brief geht raus, kommt aber zurück, weil er nicht frankiert war.
Herr Sapori schreibt mir einen erneuten Antrag. Wieder fünfzehn Minuten Gespräch – 10 Euro. Ich rufe bei der Dienstleitung, der Wirtschaftsverwaltung und der Poststelle an und erfahre schließlich, dass er einen falschen Text auf den Antrag geschrieben hat. Dauer: dreißig Minuten, das sind 20 Euro plus die Bezüge der anderen Mitarbeiter (etwa weitere 15 Euro). Ich hole den Gefangenen erneut zum Gespräch, schreibe ihm den Antrag, er lädt bei der Gelegenheit all seinen Frust und seine Sorgen bei mir ab: dreißig Minuten für 20 Euro.
Der Brief kommt von der Poststelle zurück mit dem Vermerk „kann nicht frankiert werden“. Herr Sapori fängt mich auf dem Gang ab, ich bin genervt. Werde unfreundlich, entschuldige mich, nehme den Brief an mich und verspreche mich darum zu kümmern. So zirka 10 Euro. Einige Telefonate und 60 Euro später erfahre ich: Sein Konto ist bei Null. VOR dem letzten Einkauf (siehe Infobox) hatte er noch Geld auf dem Konto, denn er hatte bei seiner Inhaftierung 50 Euro im Geldbeutel, die als Guthaben auf sein Gefangenenkonto gutgeschrieben wurden. Von diesem Geld hätte er Briefmarken kaufen müssen. Weil er sich zum damaligen Zeitpunkt mit der Briefmarkenproblematik noch nicht beschäftigt hatte, hat der gute Mann all sein Geld für Zigaretten, Kaffee und Schokolade auf den Kopf gehauen.
Allerdings gilt er jetzt nicht mehr als mittellos, denn er HATTE ja Geld und HÄTTE ja die Möglichkeit gehabt, sich Briefmarken beim Kaufmann zu bestellen. Es wird in einem solchen Fall unterstellt, dass dem Gefangenen die Briefmarken nicht so wichtig waren, wie Kaffee und Zigaretten und von daher ist der Staat auch nicht bereit für die Unsumme von 85 Cent aufzukommen. Ergo wird nun weder die Frankierung von 85 Cent vom Staat übernommen, noch kann Herr Sapori auf eigene Kosten die Frankierung bezahlen, denn sein Konto ist ja jetzt leer.
Er würde gerne seiner Familie Bescheid geben, dass die ihm Geld schicken sollen. Das geht aber nicht, weil er nicht telefonieren darf. Als er sich beim AVD (siehe Infobox) über den Telefonbeschränkungsbeschluss beschweren wollte, teilte ihm dieser mit, er müsse dann halt einen Brief schreiben. Herr Sapori wurde ungehalten, was ihm einen Rauswurf aus dem Stationsbüro einbrachte. Würde ich den Brief einfach mit rausnehmen, frankieren und einwerfen, so würde ich mich des Briefschmuggels strafbar machen und gegen ein paar Dienstvorschriften verstoßen. Das würde mir ziemlich Ärger einhandeln, ich könnte sogar meinen Job verlieren. Außerdem noch ca. 2.000 Euro Gerichtskosten für mein Verfahren verbrennen.
Ich nehme das Thema mit in eine Besprechung mit der Dienstleitung (Lohngruppe A9a) und der Juristin Frau Exner (A15). Deren Stundenlöhne liegen Brutto bei 25 Euro und 44 Euro. Dauer des Themas: ungefähr zwanzig Minuten inklusive höflichem Geplänkel und Smalltalk darüber, wie absurd unsere Vorschriften sind und wie unnötig viel das den Steuerzahler nun gekostet hat. Kosten gesamt: 35 Euro. Der Poststelle wurde dann von der Juristin aufgetragen, den Brief rauszuschicken. Macht noch mal 14 Euro. Weil Herr Sapori ein höflicher Mensch ist, fing er mich daraufhin wieder im Gang ab, um sich wortreich für weitere 10 Euro bei mir zu bedanken. Insgesamt hat es sich der Staat nun 204 Euro kosten lassen, dass er beinahe 85 Cent gespart hätte. Applaus, bitte!
Aber was auf keiner Rechnung auftaucht, ist der kleine Funke Menschlichkeit, der inmitten all der Bürokratie gezündet wurde. Für Herrn Sapori bedeutete dieser Funke Hoffnung, Würde und ein Fenster zur Welt draußen. Der einzige dünne Faden, welcher eine Verbindung zu seiner Familie in Aussicht stellte.
Für mich bedeutet er, dass ich jeden Tag neu entscheide, gegen die Kälte der Strukturen und Absurdität des Systems Mensch zu bleiben. Und wenn ich dafür Aufgaben übernehmen muss, die weder meiner Qualifikation noch meiner Besoldungsgruppe entsprechen, dann denke ich darüber keine Sekunde nach – weil manchmal ein einziger Brief mehr wert ist als alle Vorschriften zusammen.
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