Sie ist oft vor ihren Kollegen auf Station, springt ein, sammelt Überstunden – und trotzdem wollen Patienten oft lieber von einem „richtigen Arzt“ untersucht werden. Aus dem Arbeitsalltag einer syrischen Ärztin in der deutschen Provinz.
Die Straße ist still an diesem Morgen, als Dr. Samira Al-Khafiyya den kleinen Krankenhausparkplatz betritt. Über ihr hängt der Himmel in einem melancholischen Grau, das sich wie ein dünner Schleier über die Dächer der Kleinstadt gelegt hat. Auf dem Bürgersteig vertrocknen Überreste von Blättern, die der Frühling längst vergessen hat. Ein kalter Windstoß wirbelt sie auf, sie tanzen einen Moment im fahlen Licht und gleiten wieder zu Boden. Dr. Al-Khafiyya läuft ein Schauer über den Rücken, sie zieht ihre Jacke enger und geht zügig Richtung Klinik – auch heute wird sie wieder die erste auf Station sein.
Die Internistin stammt aus Syrien, hat in Damaskus studiert und mehrere Jahre klinisch gearbeitet, bevor sie vor dem Grauen des Krieges aus ihrer Heimat flieht. Nach Stationen in Jordanien und Griechenland landet sie schließlich in Deutschland – „das Land der Dichter und Denker, mit einem der besten Gesundheitssysteme Europas“, wie es in Informationsbroschüren hieß. Doch der Weg zur Approbation ist zäh wie kalter Teer. Sie lernt Nacht um Nacht. Einmal hört sie morgens um fünf ein Geräusch, die Tageszeitung kommt. Auf der ersten Seite steht „Fachkräftemangel“.
Die Fachsprachenprüfung legt sie zweimal ab – nicht wegen mangelnder Sprachkenntnisse, sondern wegen unverständlicher Prüfungsformate, fehlender Übungsmöglichkeiten und kafkaesker Anforderungen. Die Vorbereitungskurse? Rar gesät. Die Fördermittel des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF)? Radikal gekürzt. „Man muss sich das mal vorstellen“, sagt sie leise, „auf dem Land fehlen Ärzte, überall. Und gleichzeitig gibt es kaum Angebote, damit jemand wie ich überhaupt die Prüfungen bestehen kann.“
Der Start ins Berufsleben ist hart. Im Stationsalltag sprechen die Pflegekräfte in Abkürzungen, die sie nicht kennt: VZ, BZ, RR, und „im ORBIS noch CCT für die 12 anfordern“. Niemand hat Zeit für eine strukturierte Einarbeitung. „Ich hatte Angst, etwas falsch zu machen. Ich war Ärztin, aber fühlte mich wie eine Statistin ohne Text.“
Ihre Finger gleiten über die Tastatur, als sie in der Stationssoftware einen Verlegungsbrief schreibt – die achte Dokumentation seit 7 Uhr morgens. Vorhin stürzte der PC ab, ein blauer Bildschirm, alles war weg. „In Damaskus hatten wir ein modernes Krankenhausinformationssystem, das mit der Apotheke und dem Labor verbunden war“, erzählt sie. „Hier drucken wir Befunde aus, tragen Werte mit der Hand in Kurven ein, faxen Aufträge. Ich dachte zuerst, es sei ein provisorisches Notfallsystem.“ Sie lacht kurz – ein Hauch Bitterkeit liegt darin.
Im Flur grüßt sie ein Kollege freundlich. „Guten Morgen, Frau Doktor!“ Oberflächlich ist der Umgang freundlich, höflich. Doch manchmal liegt etwas in der Luft, etwas Kaltes, kaum Greifbares, was man nicht benennen kann. Ein Patient, der lieber vom „richtigen Arzt“ untersucht werden will. Eine Kollegin, die ihre Aussprache bei der Übergabe korrigiert. Eine Patientin, die fragt „Wo kommen Sie denn wirklich her?“ – und dann schweigt, wenn sie „Syrien“ sagt.
Freunde zu finden ist schwierig. Nach Feierabend gehen alle nach Hause, zur Familie, in den Chor, zum Sport. Niemand fragt jemals, ob sie mitkommen möchte. Einmal hat sie zum Essen eingeladen – ein ganzes Menü mit mehreren Gängen voller syrischer Köstlichkeiten, selbstgemachter Mezze, dampfender Eintöpfe, süßem Gebäck mit Rosenwasser. Zwei Tage hatte sie gekocht. Zwei Kolleginnen kamen – höflich, aber es blieb das einzige Mal.
Die Wohnungssuche ist ein weiterer Kampf. Niemand will an eine alleinstehende Frau mit ausländischem Namen vermieten; E-Mails landen im Nichts. Sie wohnt jetzt in einem alten Pfarrhaus, das ein hilfsbereiter Hausmeister ihr vermittelt hat. „Es ist kalt im Winter. Aber ruhig“, sagt sie.
Dr. Al-Khafiyya macht oft Überstunden. Die Station ist ständig unterbesetzt, die Dienste sind lang. Offiziell wird nur ein Bruchteil davon erfasst – und landet auf dem unaufhaltsam wachsenden „Stundenkonto“. Freinehmen kann sie nie. Doch wenn jemand ausfällt, springt sie wieder ein. Pflichtbewusstsein, nennen es die einen. Ausbeutung, die anderen.
Nachtschicht. Die Vergessenen wachen still und sorgfältig über uns. (Credit: _docjay)
Dennoch – sie bleibt. Weil sie Ärztin ist. Weil sie weiß, dass sie gebraucht wird. Und weil sie sich, trotz allem, einen kleinen Rest Hoffnung bewahrt hat. Auf Anerkennung. Auf ein Ankommen.
„Ich habe gelernt, fachlich auf hohem Niveau zu arbeiten“, sagt sie. „Ich verdiene gutes Geld. Ich habe das geschafft, wovon viele träumen.“ Dann schweigt sie. Der Blick ihrer dunklen Augen ist eindringlich, darin liegt ein schimmernder, müder Glanz. Eine Frau, die viel geschafft hat – aber immer noch auf der Suche ist. Nicht nach einem Job. Sondern nach einem Zuhause.
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