Sandra Bunke-Kölblin ist Innovationsexpertin bei Johnson & Johnson. Im Interview erzählt sie, wie der Wandel der Pharmabranche ihre Karriere geprägt hat – und warum das Ende der „Blockbuster-Präparate“ jetzt ein Umdenken im Marketing erfordert.
Sandra Bunke-Kölblin © Johnson & JohnsonMit fast 16 Jahren Erfahrung blickt Sandra Bunke-Kölblin auf ihre Laufbahn in der pharmazeutischen Industrie zurück. Sie leitet das Transformation and Innovation Excellence Team bei Johnson & Johnson. Mit DocCheck sprach sie über Karriereperspektiven, neue Berufsbilder – und Kompetenzen, die Einsteiger mitbringen sollten.
Bunke-Kölblin: Direkt nach dem Studium startete ich in der Unternehmensberatung, wo ich erstmals mit dem Themenfeld Medizinprodukte in Kontakt kam. Für mich war das damals absolutes Neuland: von den Produkten selbst über die komplexen regulatorischen Rahmenbedingungen bis hin zu Zertifizierungsprozessen.
Anschließend wechselte ich ins Krankenhaus-Management. Ich war dort in leitender Funktion für fünf Kliniken mit insgesamt 9.000 Beschäftigten u. a. für die Fort- und Weiterbildung sowie die Einführung und Integration von Learning Management Systemen (LMS) über mehrere Kliniken hinweg verantwortlich. Besonderen Wert habe ich dabei auf die digitale Transformation und Interoperabilität der Systeme gelegt.
Der nächste berufliche Meilenstein führte mich zurück in die Beratung – genau zu der Zeit, als Omnichannel-Marketing in der pharmazeutischen Industrie stark wuchs. Meine Aufgabe war es damals, Omnichannel-Kampagnen zu entwickeln und ganzheitlich als Projektleitung umzusetzen. Dazu gehörte der Aufbau leistungsfähiger CRM-Systeme [Customer Relationship Management] sowie die Entwicklung und Implementierung von KPI-Dashboards [Key Performance Indicators] zur datenbasierten Erfolgsmessung. Durch die enge Zusammenarbeit mit diversen Pharmaunternehmen habe ich ein tiefes Verständnis für die Herausforderungen und Bedürfnisse der Branche gewonnen.
Es folgte die Position als Marketingleitung bei einem Pharmaunternehmen mit dem Schwerpunkt auf digitaler Kommunikation. Nach über drei Jahren wechselte ich zu Johnson & Johnson. Mittlerweile verantworte ich als Head of Transformation & Innovation Excellence konzernweit strategische AI, Digitalisierungs- und Innovationsprojekte sowie den New Business Development Bereich, von Early Products bis Launch Excellence. Ich leite vier Sub-Teams, arbeite an der Schnittstelle zwischen Business, Medizin und Technologie und berichte direkt ans Board. Diese Rolle ist essenziell dafür, innovative Impulse und nachhaltigen Business Impact im Unternehmen zu erzielen – insbesondere in einem Umfeld, das zunehmend durch KI, Machine Learning und Data Analytics geprägt ist.
Bunke-Kölblin: Ein wirklicher Karrieretreiber war für mich die Vielfalt der Perspektiven – vom Großkonzern über mittelständische Unternehmen bis zur spezialisierten Beratung. Dieses breite Erfahrungsspektrum hat mir ein umfassendes Systemverständnis für die besonderen Herausforderungen der Pharmabranche verschafft, insbesondere im Marketing.
Sehr früh habe ich meinen Fokus auf digitale und innovative Marketingthemen gelegt: Ob Launch Excellence, Omnichannel- und Customer-Journey-Strategien oder der Einzug von KI in die Segmentierung, Personalisierung und Automatisierung von Marketingkampagnen – ich durfte zahlreiche Pionierprojekte begleiten und gestalten. Gerade im Pharma-Marketing sind datenbasierte Ansätze und KI-gesteuerte Lösungen mittlerweile essenziell, um Stakeholder personalisiert, compliant und effizient zu adressieren.
Es hat mich stets motiviert, Technik nicht nur zu nutzen, sondern aus der Perspektive von Mensch und Organisation aktiv mitzugestalten. Und Marketing im Pharmaumfeld bedeutet eben heute, Technologien gezielt einzusetzen, um einen Mehrwert für Patienten, Ärzte und Partner zu schaffen und gleichzeitig regulatorische Vorgaben einzuhalten. Meine ersten Jahre in der Beratung waren dabei prägend: Hier habe ich gelernt, wie Marketing- und Digitalisierungsprojekte schlank und zugleich wirkungsvoll aufgesetzt werden. Im anschließenden Krankenhausmanagement habe ich zudem wertvolle Einblicke in die internen Abläufe rund um Erstattung [Reimbursement], Value-based Pricing und Market Access gewonnen – Themen, die eng mit modernen Marketing-Strategien verknüpft sind.
Bunke-Kölblin: Ich hätte noch früher in Netzwerke investiert und Stakeholder-Management zum zentralen Element meiner Arbeit gemacht.
Im modernen Pharma-Marketing ist es entscheidend, mit allen relevanten Akteuren – von Fachärzten und Patientenorganisationen über Behörden bis hin zu Key Opinion Leaders – eine enge Verbindung aufzubauen, innovative Marketingansätze gemeinsam zu entwickeln und Adaptionsbarrieren abzubauen. Denn nur so lassen sich KI-basierte und digitale Marketinglösungen erfolgreich und nachhaltig im Unternehmen verankern.
Wer ins Pharma-Marketing möchte, bringt oft falsche Erwartungen mit. Was hat sich in den letzten Jahren verändert?
Bunke-Kölblin: Viele, die ins Pharma-Marketing einsteigen möchten, haben noch das klassische Bild großer Blockbuster-Präparate vor Augen – mit beeindruckenden Kampagnen und umfassender Reichweite. Doch tatsächlich hat sich unser Markt fundamental gewandelt.
Die Branche ist heute sehr viel fragmentierter, stärker technologiegetrieben und hoch spezialisiert. Wir erleben eine Transformation hin zu gezielten Therapien: Targeted Therapies, Biosimilars und Orphan Drugs treten zunehmend in den Vordergrund, oft mit sehr kleinen, aber anspruchsvollen Zielgruppen. Das verändert alles – von der Segmentierung bis zum Zielgruppen-Management. Gerade in der Onkologie sehen wir, dass innovative Arzneimittel immer häufiger in spezialisierten Zentren und nicht mehr flächendeckend in jeder Arztpraxis verabreicht werden. Die Kommunikation muss dies widerspiegeln.
Parallel dazu steigen die digitale Reife und die Erwartungen der Patienten und Fachkreise. Sie sind informierter, anspruchsvoller und erwarten eine Kommunikation, die wissenschaftlich fundiert, relevant und maßgeschneidert ist – und das über alle Kanäle hinweg. Marketing in der Pharmabranche darf heute nicht mehr isoliert verstanden werden. Es geht schon lange nicht mehr nur um Aufmerksamkeit, sondern um den Aufbau einer ganzheitlichen Zugangsarchitektur. Reimbursement zum Beispiel ist heute nicht mehr das Endstadium der Wertschöpfungskette, sondern der Anfang einer strategischen Kommunikationsreise.
Entscheidend ist, schon zu Beginn der Planung die Evidenzfragen der unterschiedlichen Stakeholder mitzudenken: Welche Belege fordern Kostenträger, HTA-Gremien [Health Technology Assessment] oder medizinische Meinungsbildner? Welche Form des Nachweises einer Nutzenbewertung zählt (etwa ein klinischer, ökonomischer oder patientenzentrierter Nutzen)? Das beeinflusst sämtliche Marketingmaßnahmen, von der Wahl der Kanäle über die Ansprache bis zur Entwicklung der Botschaften.
Der sichtbare Trend im pharmazeutischen Marketing ist die Verschiebung weg vom klassischen Storytelling hin zu einem evidenzbasierten, datengetriebenen Stakeholder-Management. Wer heute erfolgreich sein will, muss sowohl Ärzte und Krankenhäuser als auch Kostenträger, Patientenverbände und Entscheidungsgremien involvieren und überzeugen – und das auf Basis valider Daten und eines klaren Mehrwerts. KI und datenbasierte Tools spielen dabei eine Schlüsselrolle, weil sie hochpräzise personalisierte Kommunikation ermöglichen, die Wirkung von Maßnahmen laufend messbar machen und sogar selbst einen Beitrag zur Evidenzerzeugung liefern. Nachweise aus der Real World, Langzeiterfahrungen und Pay-for-Performance-Modelle werden zunehmend zum kommunikativen Standard und prägen unsere Strategie.
Mein Fazit: Wer ins moderne Pharma-Marketing wechseln möchte, braucht heute nicht nur Kommunikationsstärke, sondern vor allem Innovationsgeist, technisches Know-how und ein tiefes Verständnis für die Wertschöpfungsketten und Marktmechanismen in unserer Branche. Nur so gelingt es, in einem immer stärker regulierten, technologiegeprägten Umfeld nicht nur Ärzte zu überzeugen, sondern auch die Vielzahl an Stakeholdern, die zwischen Innovation und Patienten stehen.
Bunke-Kölblin: Künstliche Intelligenz verändert das Pharma-Marketing von Grund auf. Mithilfe von generativer AI können wir heute Content automatisiert, evidenzbasiert und in bisher unerreichter Qualität und Schnelligkeit erstellen – individuell für Ärzte, Patienten und Kostenträger. Dabei entsteht mit Generative Engine Optimization (GEO) ein ganz neuer Channel: Wir müssen Inhalte so gestalten, dass GenAI-Modelle wie ChatGPT sie als vertrauenswürdige Quellen auswählen und prominent ausspielen. Damit werden die GenAI-Modelle selbst zu Zielgruppen im Marketing.
Gleichzeitig werden AI Agents die Interaktion mit Ärzten, Patienten und anderen Stakeholdern auf ein neues Level heben. Sie beantworten medizinische Fragen, liefern personalisierte Informationen und generieren wertvolle Insights – rund um die Uhr, mehrsprachig und compliant. Im Zusammenspiel mit KI-gestützten CRM-Systemen, die Zielgruppen dynamisch analysieren, Segmentierung automatisieren und Kampagnen steuern, entsteht ein datengetriebenes, hochpersonalisiertes Marketing-Ökosystem.
Ein weiterer Wandel sind AI Agents und intelligente CRM-Systeme, die die Interaktion mit Stakeholdern sowie die Automatisierung von Analyse und Kampagnensteuerung massiv verändern. Marketing-Teams werden zunehmend mit lernenden Software-Agenten, die Zielgruppen personalisiert ansprechen und in Echtzeit Insights liefern arbeiten.
Pharma-Marketing steht aktuell vor einem fundamentalen Wandel. Neue Technologien, allen voran Künstliche Intelligenz, verändern nicht nur, wie Zielgruppen angesprochen werden, sondern auch, welche Fähigkeiten für eine erfolgreiche Karriere wirklich zählen. Entscheidend ist heute, sich nicht auf klassische Kommunikationswege zu verlassen, sondern Marketing, IT, Business und Medizin als eng verknüpfte Bereiche zu verstehen und dafür fachübergreifende Kompetenzen aufzubauen.
Gerade in einer Zeit, in der Content Creation mit Generative AI, datengetriebene Kampagnen und Generative Engine Optimization an Bedeutung gewinnen, sind technisches Verständnis und Innovationsgeist im Marketing gefragter denn je. Wer sich mit digitalen Kanälen, smarten CRM-Systemen und moderner Zielgruppenanalyse beschäftigt, verschafft sich einen klaren Vorteil.
Auch Themen wie Reimbursement und Market Access stehen stärker im Fokus, da der Marketingerfolg zunehmend davon abhängt, wie strategisch neue Therapien positioniert und evidenzbasiert kommuniziert werden. Kreativität allein genügt heute nicht mehr – entscheidend ist, patientenzentriert, crossmedial und datengestützt zu denken und agieren zu können.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bildquelle: Javier Allegue Barros, Unsplash