Eine ethisch fragwürdige Studie sorgt für hitzige Diskussionen: Der Einsatz von künstlicher Intelligenz auf Reddit sollte zeigen, ob KI Meinungen erfolgreicher beeinflusst als Menschen. Überraschung – tut sie.
Tatsächlich überraschen diese Ergebnisse nicht so sehr. Doch die ethische Diskussion rund um diese Studie ist interessant, insbesondere die heftige Kritik, dass die Studie ohne Aufklärung und Einwilligung durchgeführt wurde. Jeder, der in der Forschung arbeitet, weiß, dass die Einholung einer Einwilligung eines der Grundprinzipien ist – ob gesetzlich vorgeschrieben oder nicht. Allerdings kann die Aufklärung auch zu einer Verhaltensänderung führen, was als Hawthorne-Effekt bezeichnet wird und die Ergebnisse für viele Fragestellungen verfälschen kann. Denn Menschen neigen dazu, anders zu handeln, wenn sie wissen, dass sie beobachtet werden.
Wie lässt sich also in einem Experiment eine Hypothese testen, wenn die Zielkriterien stark von der Compliance und von den subjektiven Meinungen der Teilnehmer abhängen, wenn diese zustimmen müssen, d. h. wissen, dass ihre Antworten analysiert werden? Obwohl statistische Methoden versuchen können, angenommene Placebo- oder Hawthorne-Effekte zu berücksichtigen, stoßen wir in solchen Fällen offenbar an die Grenzen der Wissenschaft.
Sobald wir in einen Prozess eingreifen – und sei es nur durch eine Messung – beeinflussen wir potenziell entweder das Ergebnis oder dessen Messung; ein Prinzip, das Werner Heisenberg bereits vor hundert Jahren formulierte. Im Experiment, z. B. in einer klinischen Prüfung, scheint es also keine 100%ige Abbildung der Realität zu geben.
Hier kommt Real World Evidence (RWE) ins Spiel. Da es sich bei Real World Data (RWD) um Daten zum Gesundheitszustand von Patienten oder zur medizinischen Versorgung handelt, die routinemäßig im Rahmen der regulären medizinischen Praxis erhoben werden, ohne Einfluss eines experimentellen Studienprotokolls oder einer wissenschaftlichen Hypothese, sind RWD so realitätsnah wie möglich und frei vom Hawthorne-Effekt. Anonymisierte und aggregierte RWD entsprechen den Datenschutzgesetzen und die Erhebung medizinischer Daten ist durch Behandlungsvereinbarungen mit dem Gesundheitsdienstleister abgedeckt.
RWE steht nicht in Konkurrenz zu traditionellen randomisierten kontrollierten klinischen Studien (RCT), die nach wie vor als Goldstandard der Forschung gelten. Im Gegenteil, RWE und RCT können zusammenarbeiten. RWE-Analysen können, sofern sie mit hoher Datenqualität und korrekten Analysen durchgeführt werden, die Ergebnisse, die aus dem experimentellen Charakter von RCTs gewonnen wurden, bestätigen. Experimentelle Ergebnisse müssen sich in der Realität bestätigen.
Nicht immer lassen sich RCT-Ergebnisse in der realen Welt nachweisen. Zum Beispiel zeigte ein Vergleich von Realweltdaten mit Ergebnissen entsprechender randomisierter klinischer Phase-III-Studien zu Behandlungsschemata für das Multiple Myelom (MM), dass sechs von sieben evaluierten Behandlungsschemata in der realen Welt ein 1,44-mal schlechteres progressionsfreies Überleben und ein 1,75-mal schlechteres Gesamtüberleben aufwiesen als in der jeweiligen klinischen Studie. Diese Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung von RWD, um die tatsächliche Wirksamkeit von Behandlungen in der Klinik zu bewerten und sowohl Ärzte als auch Patienten bei Behandlungsentscheidungen besser zu informieren.
Die Kluft zwischen theoretischem Wissen, experimentellen Ergebnissen und tatsächlichen Beobachtungen in der Wirklichkeit zu überbrücken, war für unzählige Forscher jahrzehnte-, sogar jahrhundertelang ein schwer erreichbares Ziel. Zumindest in der Medizin scheint es nun so, dass RWE uns erlaubt, die Grenzen des mit theoretisch/experimentellen Methoden erreichbaren Erkenntnisgewinns zu überschreiten und der Realität näher zu kommen als je zuvor.
Bildquelle: William Daigneault, Un splash