Ich gucke meinen alten Kater an und sehe seine Gebrechen. Ich frage mich: Hatte er ein gutes Leben? Wie er meins geprägt hat, spüre ich besonders jetzt – beim Abschiednehmen.
Am Morgen liegt ein blasses Licht auf dem Parkett. Lichtsplitter tanzen über die dunklen Küchenfliesen und kriechen an den klavierlackschwarzen Küchenmöbeln empor. Meine Katze, Herr Schneider, erwartet mich, und seine Augen funkeln, als trüge er ein geheimes Lächeln durch das Haus. Sein Fell glänzt im Licht wie silbrige Seide, aufgeladen vom Schlaf, den er wie einen weichen Mantel um sich legt. Seine Pfoten sind so vorsichtig, tastend und zurückhaltend wie Gedanken.
Sein Leben scheint ein Kreis aus Stille, Schlaf und gelegentlichen Streifzügen durch den Garten, dazwischen das Summen der Bienen und das Rauschen des Regens im Geäst. Wenn ich ihm die Terrassentür öffne, nickt er mir nur zu und tastet sich nach draußen.
Ich, sein Mensch, sitze am Tisch, die Hände um eine Kaffeetasse gelegt und beobachte ihn durch das Glas der Terrassentür. Er blinzelt mit einer Geduld, die nur alten Katzen gehört. Seine Ohren zucken, wenn draußen ein Vogel ruft. Er schiebt die Pfote vorsichtig ins Gras und prüft, ob der Tag seinen Namen kennt. Manchmal bleibt er lange an der Schwelle sitzen, tastet mit dem Blick das Reich aus Licht und Schatten ab, das für ihn zugleich Welt und Grenze ist.
Seine Bewegungen tragen einen Rest Jugend, verborgen in der Art, wie er sich an einen Sonnenfleck schmiegt, als trinke er Licht mit geschlossenen Augen. Ich frage mich: Ist das hier genug für ihn? Ist es schön oder ist es so einsam, dass selbst die Stille manchmal schmerzt? Wie fühlt es sich an, ein Leben in immer gleichem Kreis zu laufen? Ist das Glück, wenn jeder Tag schmeckt wie lauwarmer Regen – oder ist es die Trägheit einer Zeit, die nie Wellen schlägt?
Früher, als Herr Schneider jung war, tobte er durch das Gras wie ein weißer Blitz aus Fell. Seine Krallen ritzten Muster in die Erde, seine Sprünge schienen der Schwerkraft zu trotzen. Heute bewegt er sich, als balanciere er Erinnerungen auf dem Rücken. Arthrose hat einen Ellbogen fest im Griff – jeder Schritt ein stiller Handel mit dem Schmerz, manchmal mehr, manchmal weniger. Wenn wieder eine Schmerzwelle kommt, verkleinern sich seine Augen, der Kopf senkt sich, und sein Geist bittet um Erlösung. Erst das Schmerzmittel bringt wieder Licht in sein Fell, wieder einen Funken ins Schnurren. Dann gebe ich es ihm tropfenweise als kleines Ritual – aus Fürsorge und Verzweiflung. Diese Tropfen werden zum Schlüssel, der für einen Moment das alte Leben wieder aufschließt. Dann sieht er mich an, die Pupillen rund und dunkel wie Sternennächte, in denen ich ihn manchmal verliere.
Herr Schneider, ganz jung von der Straße aufgelesen, sucht meine Nähe selten, doch wenn er kommt, ist es wie ein Fest. Er schmiegt sich an mich, schnurrt ein raues Lied, in dem Jahre stecken, die ich kaum zählen mag. Dann spüre ich: Auch Einsamkeit kann weich sein, wenn Liebe wie Licht durch sie fällt.
Nachts schläft er viel und tagsüber schläft er viel. Die Welt zieht an ihm vorbei wie ein langsamer Fluss und manchmal träumt er vielleicht von Sommern, die längst vergangen sind, von Abenteuern im hohen Gras, von Nächten voller fremder Gerüche und heimlicher Jagden. Seine Träume sind für mich verschlossen, nur das gelegentliche Zucken der Schnurrhaare verrät, dass er in Welten reist, zu denen ich keinen Schlüssel besitze.
Oft frage ich mich, ob er sich einen Gefährten wünscht, der den Staub aus seinen Tagen fegt und ihm Gesellschaft leistet, wenn niemand zu Hause ist. Doch wenn ich in seine smaragdgrünen Augen sehe, erkenne ich auch Zufriedenheit und ein ruhiges Akzeptieren der Dinge, wie sie sind. Vielleicht liebt er das Alleinsein, die Ordnung seiner kleinen Welt, in der er alles kennt und nichts fürchten muss, denn das Haus ist sein Königreich. Jeder Raum trägt seinen Geruch, jedes Möbelstück einen Hauch von Fell.
Er zieht lautlose Linien durch die Zimmer, nimmt Besitz von Kissen, Decken, Fenstersimsen. Im Winter sucht er den Platz auf einem Stuhl vor dem Schwedenofen oder in seinem Coucheck, im Sommer jagt er Staubkörner durch den Sonnenstrahl. Manchmal spreche ich mit ihm, erzähle ihm von meinem Tag. Er antwortet nicht, aber manchmal hebt er den Kopf, blinzelt langsam, als wolle er sagen: Ich verstehe dich. Ich bin hier.
Herr Schneiders Leben ist ein schmaler Grat, jeder Tag ein Geschenk. Katzen werden selten zwanzig. Er hat schon viele Winter gesehen und jedes Jahr wird der Winter ein wenig länger, das Fell ein wenig grauer. In seinen Bewegungen liegt die Zärtlichkeit des Abschieds, in seinen Blicken die Sanftheit einer Ahnung: Bald werden wir uns verlieren. Ich halte ihn fest, so gut ich kann, streichle ihn, verspreche ihm, dass ihn niemand je vergisst.
Abends, wenn das Haus dunkel wird, bleibt er in meiner Nähe, ein Schatten auf dem Sofa, eine leise Präsenz, die den Raum wärmt. Sein Atem ist ruhig, sein Schlaf tief, und ich frage mich wieder: Ist das genug? Oder lebt in ihm ein ungelebtes Leben, eine Sehnsucht, die ich niemals stillen kann? Besonders dann spüre ich die Melancholie wie ein Tuch über meinen Schultern.
Vielleicht ist das Glück der Katzen das Einfache, das Verlässliche: ein Fensterplatz im Abendlicht, der Duft von Garten nach dem Regen, eine Hand, die niemals vergisst, wie sich Liebe anfühlt. Und so bleibt Herr Schneider ein König auf Samtpfoten und trägt das leise Gewicht der Tage, die wir teilen.
Ich lerne das Abschiednehmen jeden Tag ein wenig mehr, mit jedem Herzschlag, den er mir noch schenkt. Am Ende, wenn das Licht versiegt und nur noch unser gemeinsames Schweigen bleibt, legt er den Kopf in meine Arme, als wollte er sagen: Für mich war es genug.
Und draußen im Garten weht der Wind das letzte Lied des Tages durch die Zweige – sanft, melancholisch und voller Liebe.
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