Merlin will ganz hoch hinaus: Bis auf den Gipfel des Himalayas will er steigen. Wären da nicht die Albträume vom Ertrinken und diese Angst, die ihm die Kehle zuschnürt. Ein Bergsteiger zwischen Höhenflug und Absturzgefahr.
Nepal, ein Basislager auf knapp 5.500 Metern Höhe. Ein Mikrokosmos für sich: Gebetsflaggen tanzen im eisigen Wind, Zeltplanen flattern. Ein Durcheinander aus Stimmengewirr, Geschirr klappert, eine schwer bepackte Karawane aus Pferden wird mit lautem Geschrei durchs Camp getrieben.
Nepal, 5500 Meter. Was bringt die Nacht? (Credit: _docjay)
Vor einem der Zelte sitzt eine zusammengesunkene Gestalt, sie starrt in die Ferne. „Merlin, kommst du?“, ruft eine Stimme. Der junge Mann steht auf. Die Sonne verschwindet langsam hinter den majestätischen Gipfeln, es wird dunkel. Nachts beginnt dann der Albtraum. Merlin bekommt keine Luft mehr. Ihn erfasst eine nie dagewesene Angst, die ihm die Kehle zuschnürt, das Atmen wird jetzt fast unmöglich. Was zum Teufel mache ich hier, denkt er sich?
Merlin ist gut trainiert und will mit Julia diesen 6.800 Meter hohen Gipfel besteigen. Julia ist gnadenlos und topfit, wie eine kalte, effiziente Maschine. Bisher lief alles gut, professionell geplant wie immer. Jeden Tag schaffen sie fast 1.000 Höhenmeter, alles im Plan. Nur der Schlaf, der irritiert ihn. Merlin konnte immer schlafen wie ein Stein, egal wo, egal was passiert. Aber jetzt schreckt er oft aus dem Schlaf, träumt, dass er ertrinkt. In den Bergen? Das macht keinen Sinn. Ist das eine böse Vorahnung? Nein, egal.
Gestern bemerkte er auf den letzten Metern leichte Kopfschmerzen, etwas Kratzen im Hals, er musste mehrfach husten. Aber es muss weitergehen, weiter nach oben. „Alles gut?“, fragt Julia. Daumen nach oben. „Na klar!“
Nichts ist gut, wenige Stunden später. Irgendetwas schlägt jetzt mit voller Härte zu. Merlin weiß nicht, dass seine Sauerstoffsättigung gerade bei 73 % liegt und sich langsam aber stetig Flüssigkeit in seinen Alveolen sammelt. Was er weiß: Das ist nicht normal, das ist ernst. Existenziell ernst.
Am Morgen nach dieser Nacht kann er nur noch aufrecht sitzen, er hustet, ein bisschen Schaum fließt aus dem Mundwinkel, blassrosa. Atemfrequenz 50/Minute. Ein Sherpa greift zum Satellitentelefon: „Emergency!“. Eine Frau schreit, Hektik bricht aus. Merlin reagiert kaum noch, der Schaum in seinem Mundwinkel ist jetzt blutig.
Drei endlose Stunden später: Plötzlich bricht ohrenbetäubender Lärm durch das stille Bergmassiv. Ein filigraner Schatten nährt sich, dem man diesen Lärm kaum zutraut. Die Luftrettung. Wenige Stunden später ist Merlin in Kathmandu im Krankenhaus. Es war höchste Zeit.
Menschen sind anpassungsfähig, aber nicht für große Höhen gemacht. Ab etwa 2.500 Metern sinkt die arterielle Sauerstoffsättigung (SpO₂) kontinuierlich mit zunehmender Höhe. Dadurch wird die Sauerstoffversorgung der Gewebe zunehmend eingeschränkt – es entsteht eine Hypoxie. Der Körper reagiert darauf mit einer Reihe komplexer Regulationsmechanismen: Der Sympathikus wird aktiviert, Herzfrequenz, Herzminutenvolumen und Atemfrequenz steigen. Eine gesteigerte Diurese in den ersten Tagen führt zur Hämokonzentration.
Parallel setzt die vermehrte Ausschüttung von Erythropoetin ein, was mittelfristig die Produktion der Erythrozyten erhöht. Die Hypoxie triggert außerdem eine verstärkte alveoläre Ventilation, was zu einer respiratorischen Alkalose führt. Diese wird teilweise durch renale Bicarbonatausscheidung kompensiert. In der Lunge führt die alveoläre Hypoxie zur hypoxischen Vasokonstriktion, was den pulmonal-arteriellen Druck erhöht (ein zentraler Mechanismus bei der Entstehung des Höhenlungenödems). Bei längerer Exposition greifen tiefergehende Anpassungsvorgänge, z. B. eine veränderte mitochondriale Enzymexpression, Kapillardichte oder ventilatorische Effizienz.
Gelingt die Akklimatisation nicht – etwa bei zu schnellem Aufstieg oder genetischer Prädisposition – kann das Regulationssystem kippen. Dann kommt es zur Höhenkrankheit in ihren verschiedenen Ausprägungen.
Die akute Höhenkrankheit (AMS – Acute Mountain Sickness) tritt meist 6–24 Stunden nach dem Aufstieg auf Höhen über 2.500 Metern auf. Typisch ist die Kombination aus den Beschwerden Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Schwindel, Abgeschlagenheit und Schlafstörungen. Die Symptome ähneln einem Kater, können aber rasch eskalieren. AMS ist das häufigste Syndrom der Höhenkrankheit und ein Warnsignal – denn in schweren Fällen kann sie in lebensbedrohliche Komplikationen übergehen.
Das Höhenlungenödem (HAPE – High Altitude Pulmonary Edema) ist eine seltenere, aber deutlich dramatischere Manifestation. Es entsteht durch eine hypoxieinduzierte pulmonale Vasokonstriktion mit inhomogenem Druckanstieg im Lungenkreislauf. Dies führt zu einem kapillären Übertritt von Flüssigkeit in die Alveolen – nicht entzündlich, aber progressiv. Symptome sind Belastungsdyspnoe, trockener Reizhusten, später schaumig-rosiger Auswurf, Tachykardie und Zyanose. Die Betroffenen wirken zunehmend panisch und desorientiert. Ohne rasche Behandlung durch Abstieg oder Sauerstoff führt das HAPE in ca. 50 % der Fälle zum Tod.
Das Höhenhirnödem (HACE – High Altitude Cerebral Edema) ist die seltenste, aber auch gefährlichste Form der Höhenkrankheit. Vermutlich liegt eine hypoxiebedingte Vasodilatation mit gestörter Blut-Hirn-Schranke vor, die zu einem vasogenen Hirnödem führt. Frühsymptome sind starke Kopfschmerzen, Gangunsicherheit (Ataxie), Übelkeit und psychische Veränderungen. Rasch folgen Bewusstseinseintrübung, Krampfanfälle und Koma. HACE ist ein medizinischer Notfall und kann unbehandelt innerhalb von 24 h zum Tod führen.
Gemeinsam ist allen drei Erkrankungen: Sie können rasch eskalieren, betreffen auch gut trainierte Menschen – und sind durch Akklimatisation fast immer vermeidbar.
Die wichtigste Maßnahme bei Symptomen einer Höhenkrankheit ist der sofortige Stopp des Aufstiegs. Leichte AMS-Symptome können durch Ruhe, Flüssigkeitszufuhr und ggf. Analgetika (z. B. Ibuprofen) beherrscht werden.Zudem können Acetazolamid und Dexamethason sowohl zur Prävention als auch zur Therapie eingesetzt werden. Bei moderaten bis schweren Verläufen und persistierenden Beschwerden heißt es nur runter, runter, runter – hier hilft nur ein sofortiger Abstieg, idealerweise um mindestens 500–1.000 Höhenmeter.
Beim Höhenlungenödem (HAPE) steht der rasche Abstieg an erster Stelle. Unterstützend werden Sauerstoffgabe (2–4 l/min) und Nifedipin (20 mg/d) empfohlen. Auch Tadalafil kann eingesetzt werden. In abgelegenen Regionen kann eine portable Überdruckkammer (Gamow-Bag) lebensrettend sein.
Das Höhenhirnödem (HACE) erfordert ebenfalls sofortigen Abstieg so tief wie möglich, zusätzlich die Gabe von Dexamethason (initial 8 mg, dann 4 mg alle 6 Stunden). Sauerstoff verbessert meist rasch die Symptomatik.
It's a long way home ... Bei Höhenkrankheit hilft nur runter, runter, runter (Credit: _docjay)
Und Merlin? Er hatte das Vollbild eines HAPE. Der Hubschrauber rettete sein Leben. Nach 2 Tagen konnte er aus der Klinik entlassen werden. Seine Faszination für Nepal und die Berge hat er nicht verloren – aber Bergsteigen geht er nur noch in den Alpen.
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