Lückenhafte Datensätze, fragwürdige Laborwerte und intransparente Publikationen: Analysen im BMJ bringen Schwächen bei Ticagrelor-Studien ans Licht. Wie sollten Ärzte darauf reagieren?
Seit über zehn Jahren hat sich Ticagrelor (Brilique®) in Kombination mit Acetylsalicylsäure zur Behandlung des akuten Koronarsyndroms (ACS) etabliert. Zahlreiche Leitlinien präferieren Ticagrelor gegenüber Clopidogrel, gestützt auf Studien, die eine überlegene, schnellere Hemmung der Thrombozytenaggregation und sogar einen Überlebensvorteil versprechen.
Das zahlt sich aus: Allein im Jahr 2024 erzielte AstraZeneca mit dem Wirkstoff Milliardenerlöse. Mit dem Markteintritt günstiger Generika dürfte der Einsatz von Ticagrelor weiter zunehmen. Doch die Zweifel am Nutzen-Risiko-Verhältnis wachsen.
Die Zulassung basiert auf der großen, internationalen PLATO-Studie, einer randomisierten Studie mit 18.624 Patienten in 43 Ländern. Ein Kommentar im British Medical Journal (BMJ) fasst wesentliche Kritikpunkte zusammen.
So bescheinigte PLATO Ticagrelor eine signifikant bessere Wirksamkeit im Vergleich zu Clopidogrel, insbesondere zur Verringerung der Zahl kardiovaskulärer Todesfälle, Herzinfarkte und Schlaganfälle. Doch ausgerechnet in den US-Teilnehmergruppen schnitt Ticagrelor schlechter ab – mit einem signifikant höheren Risiko für schwere Ereignisse im Vergleich zu Clopidogrel.
Quelle: FDA
Logische Erklärungen für dieses „US-Paradoxon“ gibt es nicht. Die FDA genehmigte Ticagrelor entgegen den Warnungen interner Fachgutachter. Diese monierten unter anderem massive Mängel bei der Datenqualität sowie Ungereimtheiten bei der Auswertung.
Weitere Analysen deckten Fehler und Unstimmigkeiten bei der Ereignisbewertung auf. So dokumentierten Forscher nachträglich mehr Herzinfarkte im Clopidogrel-Arm, teils ohne objektive Grundlage. Auch bei Todesfällen kam es laut BMJ zu fragwürdigen Neuzuordnungen, immer zugunsten von Ticagrelor.
Nun legt eine ebenfalls im BMJ veröffentlichte Übersicht nahe, dass auch die beiden zentralen pharmakodynamischen Studien ONSET/OFFSET und RESPOND gravierende Mängel haben. Sie sollten die überlegene Thrombozytenaggregationshemmung von Ticagrelor im Vergleich zu Clopidogrel belegen.
Die wichtigsten Kritikpunkte:
Auch die Rekrutierung der Patienten wirft Fragen auf. Für ONSET/OFFSET waren pro Teilnehmer bis zu 429 ml Blut vorgesehen, für RESPOND sogar bis zu 604 ml – ein ungewöhnlich hoher Wert, gerade bei ambulanten Patienten mit stabiler KHK. Viele Prüfzentren hatten Mühe, Freiwillige zu finden.
Zudem ließ sich nicht verlässlich nachvollziehen, ob alle Prüfzentren fachgerecht geschult wurden, um Analysen der Thrombozytenfunktion konsistent durchzuführen – eine Voraussetzung, da solche Messungen äußerst störanfällig sind.
Erstaunlich ist auch, dass Autoren der Publikationen die Studien nach eigener Aussage gar nicht aktiv begleitet haben. So erklärte ein in der Circulation-Arbeit gelisteter Autor dem BMJ, er habe an RESPOND nicht teilgenommen. Andere beteiligte Ärzte waren nicht erreichbar oder lehnten Rückfragen ab.
Neben den methodischen Mängeln fällt auf, dass sich der postulierte Vorteil der raschen Thrombozytenhemmung in der großen PLATO-Studie klinisch nicht widerspiegelte: Patienten mit perkutaner Koronarintervention (PCI) schnitten unter Ticagrelor kurzfristig schlechter ab als unter Clopidogrel. FDA-Prüfer Thomas Marciniak wies bereits 2009 auf diese Inkonsistenz hin.
Auch Victor Serebruany, ursprünglich an einer Kooperation mit AstraZeneca interessiert, hielt die pharmakodynamischen Daten für zu gut, um wahr zu sein. „Es ist seit Jahren offensichtlich, dass mit den Daten etwas nicht stimmt“, sagte er. „Dass die FDA all diese Probleme übersehen konnte – zusätzlich zu den vielen Problemen, die ihre eigenen Gutachter festgestellt haben und die nun vom BMJ aufgedeckt werden – ist unfassbar.“ AstraZeneca teilte Serebruany mit, dass man seine methodischen Bedenken geprüft, aber nichts gefunden habe.
Für Ärzte, die Ticagrelor seit Jahren routinemäßig einsetzen, stellen die Analysen ein ernstes Problem dar. Wenn Studienergebnisse unvollständig, falsch dargestellt oder selektiv publiziert wurden, lässt sich daraus keine verlässliche Nutzen-Risiko-Bewertung ableiten.
Ticagrelor gehört jetzt dringend auf den Prüfstand. Das kann aber dauern. Ärzten bleibt momentan nur, Indikation sorgfältig zu hinterfragen und mögliche Alternativen in Betracht zu ziehen.
Quellen
Doshi: Doubts over landmark heart drug trial: ticagrelor PLATO study. BMJ, 2024. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.q2550.
Doshi: Ticagrelor doubts: inaccuracies uncovered in key studies for AstraZeneca’s billion dollar drug. BMJ, 2025. doi: https://doi.org/10.1136/bmj.r1201.
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