Prof. Dr. med. Annette Richter-Unruh, Leiterin des Hormonzentrums für Kinder und Jugendliche des MVZ Dr. Eberhard & Partner in Dortmund, ist auf die Diagnose und Behandlung von Lipodystrophie spezialisiert.
Welche Erfahrungen machen Sie mit der Diagnose von Lipodystrophie?
Prof. Dr. med. Richter-Unruh: „Lipodystrophie ist eine extrem seltene Erkrankung. Entsprechend gering ausgeprägt ist das Bewusstsein dafür, selbst unter Expert*innen. Die Diagnosestellung dauert häufig sehr lange, weil die Symptome unspezifisch erscheinen und dadurch oftmals fehlinterpretiert werden. Ein Fall hat sich mir besonders eingeprägt: Ein Kind, das jahrelang falsch diagnostiziert wurde. Es war extrem mager und in körperlicher Hinsicht unterentwickelt. Die Mutter geriet sogar unter Verdacht, ihr Kind zu vernachlässigen oder gar absichtlich unterzuernähren. Als die Familie zu uns kam, haben wir eine genetische Diagnostik veranlasst, jedoch ohne eindeutigen Befund. Auch der Einsatz von Wachstumshormonen brachte keinen Erfolg. Erst Jahre später konnte schließlich die Diagnose einer Lipodystrophie gestellt werden.
Dieser Fall zeigt exemplarisch, wie langwierig und belastend der Weg zur richtigen Diagnose für die Betroffenen sein kann. Gerade bei ungewöhnlichen klinischen Verläufen sollte man seltene Erkrankungen in Betracht ziehen.“
Abgesehen von der persönlichen Erleichterung für die Betroffenen, endlich Klarheit zu haben, warum ist es gerade bei seltenen Erkrankungen wie der Lipodystrophie so entscheidend, frühzeitig die richtige Diagnose zu stellen?
Prof. Dr. med. Richter-Unruh: „Eine frühzeitige Diagnose bei Lipodystrophie ist essenziell, um schwerwiegende Stoffwechselstörungen wie Insulinresistenz, Fettstoffwechselstörungen oder Leberverfettung rechtzeitig zu verhindern. Je früher die Erkrankung erkannt wird, desto besser können Therapie und Betreuung individuell abgestimmt werden, und im besten Fall noch bevor irreversible Schäden entstehen. Natürlich ist die Diagnose nicht einfach. Daher ist die Sensibilisierung der niedergelassenen Kolleg*innen besonders wichtig, um auffällige Merkmale wie eine ungewöhnliche Fettverteilung oder eine hohe Insulinresistenz frühzeitig zu erkennen und die Patient*innen an spezialisierte Zentren zu überweisen. So können Leidensdruck und unnötige Verzögerungen für Betroffene und Angehörige vermieden werden.“
Worauf achten Sie konkret, wenn der Verdacht auf eine Lipodystrophie besteht – und welche diagnostischen Stolpersteine gibt es dabei im klinischen Alltag?
Prof. Dr. med. Richter-Unruh: „Zunächst schaue ich mir die klinischen Auffälligkeiten genau an. Ein verbreitetes Bias in der ärztlichen Praxis ist, dass wir die Patient*innen selten entkleidet sehen. Doch bei Lipodystrophie ist genau das entscheidend, da nur so die ungewöhnliche Fettverteilung auch optisch auffällt. Ein gesundes Wachstum bei Kindern oder ein scheinbar normales Körpergewicht bei Erwachsenen könne daher trügerisch sein. Deshalb ist es wichtig, auf bestimmte körperliche Muster zu achten: Ein dicker Bauch bei dünnen Extremitäten, Fettansammlungen im Nacken – der sogenannte Büffelnacken – oder eine insgesamt disproportionale Fettverteilung sollten die diagnostischen Alarmglocken läuten lassen.
Hinzu kommen labortechnische Hinweise: stark erhöhte Triglycerid-Werte, eine ausgeprägte Insulinresistenz oder frühe metabolische Auffälligkeiten wie eine Fettleber können zusätzliche Hinweise liefern.
Was würden Sie Ihren Kolleg*innen empfehlen?
Prof. Dr. med. Richter-Unruh: „Wichtig ist, aufmerksam zu sein und die Patient*innen genau zu beobachten. Symptome wie eine ausgeprägte Insulinresistenz, die nicht zum BMI passt, oder ein sehr muskulöser Körper ohne bekannte extreme sportliche Betätigung sind wichtige Hinweise. Wenn Eltern berichten, dass ihr Kind ständig Hunger hat, aber nicht zunimmt, sollte man hellhörig werden. Mangelndes Sättigungsgefühl ist ein oft übersehener, aber feiner Parameter bei Lipodystrophie. Besonders bei Kindern, die schon in den ersten Lebensjahren auffällig viel Hunger haben, lohnt es sich, genauer hinzusehen und bei dem kleinsten Zweifel an ein Spezialzentrum überweisen. Meine Devise lautet: Lieber einmal zu viel überweisen als einmal zu wenig. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist besonders bei so seltenen Erkrankungen wie Lipodystrophie einfach essenziell, um den Patient*innen die bestmögliche Versorgung zu bieten.“
Was braucht es aus Ihrer Sicht, damit seltene Erkrankungen wie Lipodystrophie früher erkannt und Betroffene besser versorgt werden können?
Prof. Dr. med. Richter-Unruh: „Die Sensibilisierung für seltene Erkrankungen wie Lipodystrophie ist entscheidend. Wenn etwas nicht ins Bild passt, sollte man an seltene Diagnosen denken. Die Patient*innen selbst haben oft ein gutes Gespür dafür, dass etwas nicht stimmt. Wenn sie aktiv auf uns zukommen, sollten wir ihnen Glauben schenken, ihnen gut zuhören und weiter nachforschen und auch den Rat von Kolleg*innen suchen. Betroffene sollten nicht jahrelang auf ihre Diagnose warten müssen, nur weil die Möglichkeit zu einer interdisziplinären Zusammenarbeit nicht wahrgenommen wird. Deshalb: Seien Sie aufmerksam, fragen Sie nach und überweisen Sie bei Unsicherheiten an Spezialisten. Letztlich geht es darum, den Patient*innen zu helfen – und dafür ist keine Mühe zu groß.“
Bildnachweis: Chiesi