Herr Yildiz verlässt wütend mein Büro; er hat geweint. Es geht ihm schlechter als vor unserem Gespräch – aber nicht jede Sitzung kann entlastend sein. Warum manche Wunden aufbrechen müssen, bevor sie heilen können.
Dies war keine entlastende Sitzung. Tim, der Beamte ist sauer. „Dir ist schon klar, dass ich das Häufchen Elend jetzt einsperren muss bis morgen früh? Muss das wirklich sein? Hab’ ich das falsch verstanden, oder ist dein Job nicht eigentlich, dass es den Leuten danach besser geht?“
Der hat gesessen. Ich erkläre Tim, dass der Gefangene nicht suizidal ist – nur aufgewühlt, weil wir ein paar Dinge besprochen haben, die nicht bequem für ihn waren. „Na toll. Und wenn der sich jetzt doch wegmacht? Dann kann ich mich drum kümmern.“ Ich versuche ihm zu erklären, dass die Gefahr, dass Herr Yildiz heute Nacht suizidal wird, nicht größer ist als bei jedem anderen Gefangenen auf dem Gang. „Ja. Egal. Du musst ihn ja nicht runterschneiden.“ Tim ist verschnupft und der Ton ist eben manchmal rau. Doch was war passiert? Und ist die Sitzung wirklich in die Hose gegangen?
Herr Yildiz ist ein junger, smarter Typ. Hat Abitur und ein Praktikum bei einer Versicherung. Und das hat ihm auch Spaß gemacht. Aber er wollte eben mehr Geld verdienen und nicht zehn oder mehr Stunden am Tag dafür ackern. Also hat er Drogen verkauft, darin war er gut. Hat am Tag oft so viel verdient wie sein Chef im ganzen Monat. Aber ein Deal lief schief: Der Kunde schnappte sich die Drogen und wollte abhauen. Herr Yildiz wollte das nicht zulassen, denn Drogen sind teuer und die Zwischenhändler haben kein besonders offenes Ohr, wenn man sich für eine „verlorengegangene“ Lieferung entschuldigen möchte. Man geriet aneinander; einer zog ein Messer, der andere eine Glock. Am Ende war der Kunde tot und Herr Yildiz sitzt mit einer Mordanklage im Gefängnis.
Es plagen ihn Schuldgefühle, Schlafstörungen und Albträume. Er kommt zirka alle zwei Wochen, weint über den Tod des anderen Menschen, den er verursacht hat und kommt jedes Mal wieder zum gleichen Schluss: „Hätte ich ihn nicht getötet, hätte er mich getötet“. Wahrscheinlich stimmt das sogar.
Wir drehen uns Woche für Woche um das Ereignis, vollziehen Perspektivenwechsel in alle Richtungen, besprechen Strategien zur Schlafhygiene und schreiben Traumtagebücher. Er hat einen Plan für seine Entlassung. Wo er arbeiten, wo er wohnen kann. Er möchte viel Sport machen und die schlimme Gegend um den Hauptbahnhof meiden. Er möchte ein Konto für die Tochter des Verstorbenen einrichten, sobald er draußen ist. Diese hat ja nun keinen Vater mehr, seine Mutter keinen Sohn und seine Schwester keinen Bruder mehr. Ist ihm alles bewusst. Er wirkt sehr reflektiert, wenngleich ein wenig aufgesetzt. Ein typischer Verkäufer, könnte man sagen.
Zu Beginn der Gespräche ist er immer sehr angespannt. Gegen Ende wirkt er gelöst und bedankt sich wortreich und mit einigen Komplimenten bezüglich meiner Fachkompetenz. Typisch Verkäufer halt. Nach einigen Sitzungen wird aber klar, dass sich an der eigentlichen Symptomatik – den Schlafstörungen und den Albträumen – nichts, aber auch gar nichts, ändert. Das ist sehr ungewöhnlich. Also gehe ich zurück an den Anfang:
„Wie konnte das passieren? Dass Ihr Widersacher jetzt tot ist?“ Herr Yildiz setzt zu der immer gleichen Geschichte an, bei der er mit dem Stoff am verabredeten Ort erscheint, kurz gequatscht wird, der Kunde ihn überredet, die Ware zum Prüfen auszuhändigen … ich unterbreche. „Früher. Viel früher.“ „Na, erst hab’ ich das Zeug beim Zwischenhändler …“ Ich unterbreche: „Viel, viel früher. Wieso haben Sie angefangen, Drogen zu verkaufen?“ Natürlich folgen erstmal Geschichten von selbstlosen Taten, für die er Geld brauchte. Er musste „ein paar Leuten auf die Beine helfen“. Er habe auch wirklich nur zwei oder drei Mal gedealt und dann sei das gleich schief gelaufen. Darüber hinaus habe er sich schließlich auch irgendwann an den „Lebensstandard“ gewöhnt und so kam er mit regulärer Arbeit nicht weiter: „Jeden Tag um 500 € bis 1.000 € Koks für mich und meine Freunde und mehr Nutten, als man vögeln kann. Entschuldigung …“
„Herr Yildiz, ich tue mal so, als würde ich annehmen, Ihre finanzielle Dysbalance entstand aus reiner Selbstlosigkeit gegenüber Ihren Mitmenschen.“ Er verdrückt sich ein Grinsen. „Und wir beide wissen, dass Sie nicht nur zwei oder drei Mal gedealt haben.“ Er senkt den Kopf, grinst breit und guckt mich aus den Augenwinkeln mit tiefschwarzen Pupillen an. Er wirkt wie der charmante Bösewicht aus einem Schwarz-Weiß-Streifen der 50er Jahre, Zorro oder Robin Hood oder so. Und so fühlt er sich auch. Sein Selbstbewusstsein ist ungebrochen. Trotzdem kann er nicht schlafen.
Ich greife das auf und starte die Reise. „Wir spulen vor zu dem Tag Ihrer Entlassung. Sie sind jetzt also draußen und dann kommt das Geld von wo?“ – „Na, hab ich doch gesagt, ich arbeite erstmal bei meinem Bruder in der Firma und nebenbei mach ich die Ausbildung bei der Versicherung. Mein Cousin kennt den. Der nimmt mich wieder.“ – „Ok. Wir sind mal recht optimistisch und sagen, Sie bekommen im ersten Ausbildungsjahr bei der Versicherung 1.300 €. Dazu – wieder recht optimistisch – noch 2.000 €, die Sie schwarz auf dem Bau verdienen. Das sind 3.300 € pro Monat.“ Wir rechnen Versicherungen, Miete und den ganzen Kram, um den man sich als redlicher Bürger kümmern muss, weg und uns bleiben 800 € für Essen und Leben.
Er zieht einen Mundwinkel und eine Augenbraue hoch und lehnt sich ein wenig arrogant im Stuhl zurück: „Ja, das hab‘ ich bis jetzt in der Stunde verdient.“ Ich schweige zustimmend. „Aber das ist kein Problem. Das ganze Party und so… das brauch ich nicht mehr. Frau Psychologin, ich mach nur noch so daheim. Netflix mit Freunden, mal ein Bier, vielleicht am See. So dicke Autos, Party, das brauch ich alles nicht mehr. Vielleicht find ich ne Freundin. Ich will ja auch Familie gründen.“
Ich greife das wieder auf und reise weiter. „Ok. Sie haben also eine Freundin. Es wird auch ernst. Sie ziehen vielleicht zusammen. Vielleicht wird sie schwanger?" – „Yaman auf jeden! Ich will Kinder. Voll viele gerne.“ – „Wir starten mit einem. Die Wohnung wird zu klein, also zwei Zimmer mehr. Geht aber nicht, weil es sind ja nur 800 € übrig. Vielleicht arbeiten Sie mehr, vielleicht gibt’s auch irgendwann mehr Gehalt. Sie wollen aber auch bei ihrer Frau sein. Die wird unzufrieden, weil Sie so viel weg sind. Jetzt geht das Auto kaputt und der Kühlschrank und Ihre Krankenversicherung teilt Ihnen mit, dass der Monatsbeitrag steigt, weil ja jetzt Ihre Frau und bald auch noch ihr Kind mitversichert sind.“
Mundwinkel und Augenbraue sinken wieder nach unten. „Da kommt ihr alter Auftraggeber auf Sie zu“ – ich mache eine dramatische Pause – „denn Sie können davon ausgehen, dass die mitbekommen haben, dass Sie entlassen wurden. Sie geben ihm natürlich einen Korb. Sie erklären ihm, dass Sie jetzt „stabil“ sind. Netflix und so. Er gibt erst mal Ruhe. Aber die Kohle wird immer weniger. Die Frau wird zunehmend missgelaunt und das Konto rutscht ins Minus. Die Autowerkstatt will die Kohle für den kaputten Keilriemen und sie kühlen ihr Bier seit einigen Wochen in einem 12 Jahre alten Kühlschrank von Ebay Kleinanzeigen, der laut ist, ständig ausfällt und komisch riecht.“ Der Stolz von gerade eben hat seinen Körper verlassen.
Er hängt in seinem Stuhl wie ein Achtklässler in der sechsten Stunde. Ich imitiere seinen Zwischenhändler aus dem Milieu: „Mesuuut! Komm! Ein einziger Deal. Was soll passieren bei einem Mal? Mach halt nur ein Mal und dann Schluss. Sind 2.000 €. Kannst du schön 500 auf das Konto von der Kleinen legen, von der du den Alten umgelegt hast und von dem Rest bringst du deinen Scheiß wieder in die Bahn. Kostet dich keine 20 Minuten. Und ist doch für deine Familie, Mesut.“ Herr Yildiz reißt erschrocken die Augen auf. „Woah ich schwör’ Mann! Sie haben das gerade GENAU so gesagt wie der! Woher wissen Sie?“
Ich weiß, weil es immer so läuft. Die Drogenbarone sind sozialpsychologische Spezialisten. Die kennen die Schalter ihrer Schäfchen genau. Und die lassen nicht einfach ab, nur weil einer im Gefängnis saß und sich jetzt „ändern“ will. Der hat früher gutes Geld gebracht, der wird wieder gutes Geld bringen.
Bei Herrn Yildiz machen sich plötzlich Selbstzweifel breit. Er wirkt plötzlich gar nicht mehr wie ein Verkäufer. Oder Zorro. Eher wie ein Sechsjähriger, dessen Traum, seine erste Million mit einem Limostand zu verdienen, nach einem Nachmittag in der heißen Sonne geschmolzen ist. Tränen füllen seine Augen. Seine schwarzen Pupillen suchen im Raum nach Halt. Trotzig schmeißt er mir entgegen: „Die letzten Male waren voll gut. Da hab’ ich mich immer besser gefühlt. Jetzt fühl ich mich voll scheiße.“ Er tut mir nicht leid. Ich bin zufrieden, denn wir sind endlich einen Schritt weiter. „Haben Sie die letzten Gespräche denn weitergebracht?“ Frage ich ganz ruhig. Eine lange Pause entsteht. „Ich hab’ immer noch Albträume.“ „Weil Sie sich bis jetzt nicht wirklich damit beschäftigt haben, warum das Ganze passiert ist. Und auch nicht damit, was Sie tun können, damit so etwas nie wieder passiert.“ Herr Yildiz schweigt. Eine Träne rinnt stumm sein Gesicht herunter und verschwindet in seinem lackschwarzen Bart. „Das ist Scheiße“, entfährt es ihm. – „Ist es“, bestätige ich.
Manche Wunde muss man erst aufreißen, damit sie heilen kann. Und manchmal wähnt man sich auf einem guten Weg und bemerkt plötzlich, dass man seit Monaten neben dem Problem herläuft. Herr Yildiz hat von Anfang an selbst Lösungsvorschläge gemacht. Er ging in den Sitzungen immer nach vorn und begrub sich unter seinen Selbstvorwürfen. Er verweinte viel Zeit darüber, dass er die Familie seines Opfers ins Unglück gestürzt hatte, die Mutter weint, die Ehefrau schläft alleine, die Tochter wächst ohne Vater auf. Und die Brüder, Schwestern, Cousins … wir trauerten den ganzen Stammbaum durch. Mit der Lösung kam er stets selbst um die Ecke. Wie schwer das aber wirklich wird und wie viel Angst er davor hat zu versagen, hat er wortreich mit einem charmanten Grinsen weggelächelt. Nur heute hat das nicht mehr geklappt.
Tim kann ich das aus Schweigepflichtgründen nicht erklären. Er fands doof. Therapie ist kein Wellnessprogramm. Manchmal hat man Erfolg und steht trotzdem schlecht da. Denn manchmal ist der richtige Weg eben der, den alle anderen scheiße finden.
Bildquelle: Midjourney