Inflammaging galt bislang als universelles Alterungs-Phänomen. Jetzt zeigt sich: Nicht-industrielle Gesellschaften bleiben davon verschont. Warum Alter allein kein Brandbeschleuniger ist.
Für Eilige gibt’s am Ende eine kurze Zusammenfassung.
Bislang gab es kaum Zweifel daran, dass chronische, niedriggradige Entzündungen, das sogenannte Inflammaging (Entzündungsaltern), ein zentraler Bestandteil des menschlichen Alterns sind. Die Zunahme entzündlicher Prozesse wird mit zahlreichen Leiden in Verbindung gebracht, darunter Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder Demenz. Doch eine neue Arbeit stellt das Lehrbuch-Wissen infrage.
„Die Studie zeigt, dass Inflammaging kein universeller Mechanismus des Alterns beim Menschen ist“, fasst Prof. Joris Deelen vom Medizinischen Zentrum der Universität Leiden zusammen. Sie sei in erster Linie ein Phänomen industrialisierter Gesellschaften.
Ein Blick auf die Details: Wissenschaftler haben vier verschiedene Bevölkerungsgruppen untersucht, um herauszufinden, wie sich bei Menschen Entzündungsprozesse im Alter unterscheiden:
Die Menschen repräsentieren ein breites Spektrum an Lebensbedingungen – von hoch industrialisierten Gesellschaften mit moderner Gesundheitsversorgung und Fast Food bis hin zu Gemeinschaften, die weitgehend traditionell als Agrargesellschaft leben.
In allen Populationen erfassten Forscher bei Probanden die Zytokinprofile, also die Muster spezifischer Botenstoffe des Immunsystems, die Hinweise auf entzündliche Vorgänge liefern. Insgesamt wurden 19 Zytokine bestimmt, darunter Entzündungsmarker wie C-reaktives Protein (CRP), Interleukin-6 (IL-6), der Tumornekrosefaktor (TNF) und seine löslichen Rezeptoren. Diese Marker hatten sich in früheren Arbeiten bereits als relevant herauskristallisiert.
Die Wissenschaftler fanden in den Kohorten mit Probanden aus Italien und aus Singapur, was sie erwartet hatten: Mit zunehmendem Lebensalter zeigte sich ein deutlicher Anstieg mehrerer Entzündungsmarker, u. a. TNF, CRP und IL-6. Solche Veränderungen waren auch mit chronischen Erkrankungen assoziiert.
Die Muster passen zu der Vorstellung, dass eine anhaltende, niedriggradige Entzündungsaktivität im Alter pathologische Prozesse fördert und das Risiko für Krankheiten erhöht.
Ganz anders war die Situation bei Teilnehmern aus nicht-industriellen Gemeinschaften der Tsimane und Orang Asli: Zwar lagen dort die absoluten Konzentrationen vieler Entzündungsmarker oft auf hohem Niveau, was unter anderem an der Infektionsbelastung liegt – ein Großteil der Probanden hatte parasitäre oder bakterielle Infektionen. Doch überraschenderweise fehlte der fürs Inflammaging typische altersabhängige Anstieg. Das heißt: Auch ältere Menschen wiesen keine deutlich höheren Zytokinspiegel auf als jüngere. Zudem fanden sich keine konsistenten Korrelationen zwischen einzelnen Entzündungsmarkern.
Ein einheitliches Entzündungsmuster, das sich mit dem Alter verstärkt und chronische Krankheiten vorhersagt, ließ sich also nicht nachweisen. Bei den Tsimane war der Inflammaging-Faktor sogar vollkommen unabhängig vom Alter. Er hatte keinerlei prognostische Bedeutung für Erkrankungen wie Hypertonie, Diabetes oder Niereninsuffizienz.
Wie kann das sein? Die Wissenschaftler vermuten, dass vor allem Umweltbedingungen und Lebensstil-Faktoren diese Unterschiede erklären. Zwar gibt es genetische Varianten, welche die Immunregulation beeinflussen. Insgesamt scheint jedoch das Exposom, also die Summe aller äußeren Einflüsse, denen ein Mensch im Lauf des Lebens ausgesetzt ist, wichtiger zu sein. Dazu gehören Ernährung, körperliche Aktivität, Infektionsbelastung und Schadstoffexposition.
Die Tsimane etwa leben in einer Umgebung mit hoher parasitärer und bakterieller Infektionslast. Ihr ständiger Kontakt mit Krankheitserregern könnte die Zytokin-Regelkreise so stark verändern, dass typische Inflammaging-Muster gar nicht erst entstehen oder inflammatorische Botenstoffe andere biologische Funktionen übernehmen.
Inflammaging könnte zumindest teilweise ein evolutionsbiologisches Mismatch sein: Das menschliche Immunsystem hat sich über Jahrtausende hinweg in einer Umgebung entwickelt, in der Menschen ständig mit zahlreichen Krankheitserregern Kontakt hatten. Heute sieht die Situation anders aus. In Industrieländern kommen Menschen viel seltener mit Pathogenen in Berührung, ernähren sich anders und bewegen sich meist weniger als zu früheren Zeiten. Dadurch wird eine ursprünglich sinnvolle Anpassung des Immunsystems zum Problem. Seine Reaktionen richten häufiger Schaden an, als dass sie schützen.
Chronische, niedriggradige Entzündungen steigern das Risiko für viele altersbedingte Krankheiten. In nicht-industriellen Gesellschaften hingegen stimuliert der ständige Kontakt mit Erregern das Immunsystem weiterhin. Dort erfüllen Entzündungsprozesse vermutlich wichtige Schutzfunktionen, ohne automatisch zu Erkrankungen im Alter zu führen. Wohlgemerkt: Es handelt sich um Hypothesen; Pathomechanismen waren nicht Teil des Studiendesigns.
So oder so stellen Wissenschaftler mit ihrer Arbeit ein zentrales Konzept der Altersforschung infrage, ohne es völlig zu verwerfen. Inflammaging kann durchaus ein relevanter Prädiktor für altersassoziierte Krankheiten sein, wenn auch nicht immer. „Die Ergebnisse zeigen, dass die Aussagekraft vieler Biomarker, die spezifische physiologische Prozesse abbilden, nicht universell ist“, erklärt Deelen. „Wir müssen daher genau prüfen, in welchen Populationen solche Marker tatsächlich nützliche Informationen liefern.“
Das Fazit der Studie: Altern ist damit kein einheitlicher biologischer Prozess. Vielmehr entsteht es aus einem komplexen Zusammenspiel genetischer Grundlagen, Umweltbedingungen und individueller Lebensweise.
Quelle
Maximilien Franck et al.: Nonuniversality of inflammaging across human populations. Nat Aging, 2025. doi: 10.1038/s43587-025-00888-0.
Bildquelle: Yanuka Deneth, Unsplash