Unscheinbar, klebrig, informativ? Ohrenschmalz ist mehr als ein biologisches Abfallprodukt. Für welche Krankheiten es wertvolle Hinweise liefern kann – und wie es vielleicht sogar Leben rettet.
Über die eigentliche Aufgabe von Ohrenschmalz, sprich Cerumen, streiten Experten bis heute. Am wahrscheinlichsten ist, dass es den Gehörgang reinigt und ihn geschmeidig hält. Gleichzeitig ist es eine effektive Falle: Bakterien, Pilze und sogar kleine Insekten haben kaum Chancen, weiter in den Körper vorzudringen.
Mittlerweile rückt Ohrenschmalz immer stärker in den Fokus der Wissenschaft. Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass es Antworten auf etliche medizinische Fragen liefert. Die großen Vorteile: Cerumen lässt sich im Unterschied zu Blut, Liquor, Sputum oder anderen biologischen Materialien unkompliziert, nichtinvasiv und risikoarm gewinnen.
Erstaunlicherweise verrät Ohrenschmalz weit mehr über uns, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Die meisten Menschen mit europäischer oder afrikanischer Abstammung haben sogenanntes feuchtes Ohrenschmalz. Es ist aufgrund des höheren Anteils verschiedener ungesättigter Fettsäuren klebrig und gelb oder orange gefärbt. Im Gegensatz dazu besitzen 95 % der Ostasiaten „trockenes“ Ohrenschmalz, das grau und bröckelig wirkt.
Ein Ceruminalpfropf blockiert den äußeren Gehörgang. Doch in Ohrenschmalz steckt mehr. © Didier Descouens, CC BY-SA 3.0
Verantwortlich für diesen Unterschied ist das Gen ABCC11. Es steuert nicht nur die Konsistenz des Ohrenschmalzes, sondern auch, ob jemand zu Körpergeruch neigt. Etwa 2 % der Menschen – meist mit trockenem Ohrenschmalz – tragen eine Genvariante, die dafür sorgt, dass ihre Achseln fast geruchlos bleiben. Das mag von akademischem Interesse sein, zeigt aber, wie unterschiedliche Körpersysteme zusammenhängen, auf oft überraschende Weise.
Viele Krankheiten lassen sich nur schwer erkennen, weil typische Biomarker im Blut oder Urin fehlen. Dazu gehört Morbus Menière, eine seltene Erkrankung des Innenohrs, die bisher meist durch ein Ausschlussverfahren diagnostiziert wird. Nun haben Forscher einen vielversprechenden neuen Ansatz untersucht: die Analyse von Ohrenschmalz mit modernen physikalischen Verfahren wie der Gaschromatografie, gekoppelt mit der Massenspektrometrie (GC-MS).
Prinzip der Ohrenschmalz-Diagnostik: Proben von Patienten und von Kontrollen werden nach der Aufbereitung per GC-MS analysiert. © ACS Omega 2023, 8, 30, 27010-27023, CC-BY-NC-ND 4.0
Bei Patienten mit Morbus Menière fanden sie deutlich weniger unterschiedliche chemische Verbindungen als in den Proben gesunder Menschen. Außerdem konnten sie drei Fettsäuren identifizieren, die eine sichere Unterscheidung ermöglichen: cis-9-Hexadecensäure, cis-10-Heptadecensäure und cis-9-Octadecensäure.
Anschließend wurden die Konzentrationen dieser drei Substanzen exakt bestimmt. In den Proben gesunder Menschen lag der Durchschnittswert der cis-9-Hexadecensäure bei 7,89 Mikrogramm pro Milligramm Ohrenschmalz, bei Erkrankten dagegen nur bei 1,70 Mikrogramm. Ebenso deutliche Unterschiede zeigten sich bei den beiden anderen Fettsäuren. Zwischen 95 und 100 Prozent aller Patienten wurden so erkannt.
Weiter geht es mit der Onkologie: Ein Forschungsteam hat den Cerumenogramm-Test entwickelt. Er nutzt Ohrenschmalz, um Krebs und seine Vorstufen zuverlässig nachzuweisen. Bei malignen Erkrankungen verändert sich der Stoffwechsel von Zellen, und flüchtige organische Komponenten entstehen. Diese sammeln sich im Ohrenschmalz und lassen sich dort nachweisen.
In einer großen Studie prüften Forscher ihre Technologie an mehr als 700 Menschen – darunter Krebspatienten, gesunde Personen und Menschen mit gutartigen Tumoren oder Zellveränderungen. Der Cerumenogramm-Test erkannte Krebs sicher, identifizierte Vorstufen wie Dysplasien und konnte sogar den Krankheitsverlauf überwachen. Bei einem Prostatakrebspatienten zeigte der Test ein Rezidiv, das erst später durch bildgebende Verfahren bestätigt wurde. Auch entzündliche Stoffwechselveränderungen oder Dysplasien hinterließen auffällige Muster im Ohrenschmalz, während gutartige Tumoren oder Metaplasien diesen spezifischen „Fingerabdruck“ nicht zeigten. So ermöglicht der Test, hohe und geringe Krebsrisiken voneinander zu unterscheiden – ein klarer Vorteil gegenüber bisherigen Methoden, die oft Biopsien oder Bildgebungsverfahren benötigen.
Der Cerumenogramm-Test ist nichtinvasiv, kostengünstig und einfach durchzuführen. Er könnte Ärzten helfen, unterschiedliche Krebserkrankungen früher zu erkennen, Rezidive aufzuspüren und unnötige Eingriffe zu vermeiden. Die Forscher sehen darin ein vielversprechendes Instrument für Vorsorge, Diagnose und Therapiekontrolle und ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass unscheinbares Ohrenschmalz wertvolle medizinische Informationen in sich trägt.
Auch bei Stoffwechselerkrankungen spielen solche Tests ihre Stärke aus, etwa bei der Ahornsirupkrankheit. Ihr besonders auffälliges Merkmal ist der charakteristische süßliche Geruch nach Ahornsirup – und genau dieser spielt in der Diagnostik eine wichtige Rolle. Menschen, die an der autosomal-rezessiv vererbten Krankheit leiden, können bestimmte Aminosäuren nicht richtig abbauen. Ursache ist ein Defekt im sogenannten 2-Ketosäuren-Dehydrogenase-Komplex (BCKAD-Komplex). Dadurch staut sich der Abbau der Aminosäuren Leucin, Isoleucin und Valin. Diese Substanzen sammeln sich im Blut an, was gesundheitliche Probleme verursacht.
Außerdem entsteht dabei Sotolon, ein Stoff, der aus dem Leucin-Stoffwechsel stammt. Er ist für den typischen süßlichen Geruch des Urins verantwortlich, der an Ahornsirup erinnert. Gerade bei Neugeborenen kann dieser deutliche Geruch im Ohrenschmalz schon in den ersten Lebenstagen ein wichtiger Hinweis sein. Oft fällt er den Eltern oder dem medizinischen Personal beim Wickeln oder Stillen auf. Sotolon lässt sich massenspektrometrisch nachweisen, genau das haben Forscher gezeigt.
Flüchtige Stoffwechselprodukte treten auch bei Typ-1- und Typ-2-Diabetes auf: Forscher haben Ohrenschmalz-Proben von 26 Diabetes-Patienten entnommen und per Gaschromatographie/Massenspektrometrie untersucht. Zum Vergleich zogen sie flüchtige Substanzen aus Proben von 33 gesunden Personen heran.
Mit verschiedenen statistischen Methoden konnten sie zwischen gesunden und erkrankten Personen, aber auch zwischen den beiden Diabetesformen unterscheiden. Als wichtigste Biomarker identifizierte das Team Ethanol, Aceton, Methoxyaceton, Hydroxyharnstoff, Isobutyraldehyd und Essigsäure. Methoxyaceton allein reichte aus, um Typ-1- und Typ-2-Diabetes eindeutig zu unterscheiden. Die Methode hat damit großes Potenzial für schonende und zugleich verlässliche Diabetes-Screenings.
Alles in allem bietet Cerumen wertvolle Informationen über Stoffwechselprozesse im Körper und eignet sich für die nichtinvasive Diagnostik – bei etlichen Erkrankungen. Denn nahezu bei jedem Leiden verändert sich das Metabolom, sprich die Gesamtheit der Stoffwechselprozesse im Körper.
Doch der Sprung aus dem Labor in die Anwendung ist weit: Pilotstudien schließen nur wenige Probanden beziehungsweise Patienten ein. Ergebnisse müssten erst an größeren Kohorten evaluiert werden. Hinzu kommt, dass Verfahren wie die Gaschromatographie oder die Massenspektrometrie eher in Forschungseinrichtungen als in Routine-Laboren zu finden sind. Damit bleiben die Hürden hoch.
Quellen
Prokop-Prigge et al.: Ethnic/Racial and Genetic Influences on Cerumen Odorant Profiles. J Chem Ecol, 2015. doi: 10.1007/s10886-014-0533-y
Coon et al.: Mass Spectrometric Interrogation of Earwax: Toward the Detection of Ménière's Disease. ACS Omega, 2023. doi: 10.1021/acsomega.3c01943
Barbosa et al.: Cerumenogram as an assay for the metabolic diagnosis of precancer, cancer, and cancer remission. Sci Rep, 2025. doi: 10.1038/s41598-025-97440-2
Blackburn et al.: Maple syrup urine disease: mechanisms and managemen. Appl Clin Genet, 2017. doi: 10.2147/TACG.S125962
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