Zwischen Erinnerungen und verstaubten Möbeln ringt ein altes Paar um Würde. Ein Bericht über Liebe, Last und die kalte Logik der Pflegebürokratie.
Er trug ein weißes Hemd, das über seinem Bauch spannte wie die Haut eines Ballons, zu prall, um sich noch dehnen zu können. Seine Füße steckten in Hausschuhen, deren Sohlen sich längst aufgegeben hatten, als wäre auch ihnen die Last zu viel geworden. Der alte Mann war 80 Jahre alt, 150 Kilogramm schwer und nahezu bewegungsunfähig. Wir waren mit unserem Rettungswagen in die Klinik gekommen, um ihn nach Hause zu bringen. Auf dem Papier ein einfacher Krankentransport – in der Realität jedoch ein Ringen mit der Schwerkraft, den engen Ressourcen und der großen Frage dahinter: warum?
Die Kollegen der Feuerwehr waren als Trageunterstützer bereits vor Ort. Alles Männer eines Hilfeleistungslöschgruppenfahrzeugs, austrainiert und leistungsstark. Und dennoch stand ihnen der Schweiß auf den Stirnen, als sie mit uns an den Griffen des Tragetuches hingen. Die Wohnung war zu klein. Möbel reihten sich wie Barrikaden aneinander. Teppiche rutschten unter den Füßen. Überall Erinnerungen: Fotos, Porzellanfiguren, ein alter Plattenspieler. Nostalgie als Stolperstein.
Wir manövrierten den Patienten durch den Flur, der kaum Platz für zwei Menschen nebeneinander bot. Wir drehten, schoben, hoben, und jeder Zentimeter war ein Kampf. Der alte Mann stöhnte so leise, dass wir es fast nicht hören konnten. Nicht vor Schmerz, sondern vielleicht aus Scham, Müdigkeit oder beidem. Seine Frau stand daneben. Ihr Körper schien aus feinen Linien und kaum greifbarer Substanz gezeichnet, als wäre sie aus Lichtfäden gewebt, mit eingefallenen Schultern und einem Blick, der zu Boden wanderte, wenn man ihn suchte. Ihre Hände kneteten ein altes Taschentuch, als wolle sie daran die Jahre entwirren, die zwischen dem Einst und dem Jetzt lagen „Pflegegrad haben wir nicht“, sagte sie, als ich nachfragte. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauch, als hätte sie die Worte lange im Hals getragen, ohne sie auszusprechen. „Man hat einfach abgelehnt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.“
Da stand ich also, zwischen Feuerwehrhelmen und Gardinen, und fragte mich, wie das hier weitergehen sollte. Wie sie ihren Mann später auf die Toilette bringen, ihn waschen und umziehen sollte. Ich verstand sie, die Frau, die ihren Mann bei sich behalten wollte, solange es nur irgendwie ging. Ich verstand auch das Versprechen, das vielleicht einst ausgesprochen wurde, zwischen Jugend und Vertrauen: Wir bleiben zusammen, bis zum Schluss. Doch das System dahinter kapierte ich nicht. Das System, das einfach wegsah, während es Aktenberge schichtete und Anträge abwies, als wären es Rechnungen für Luxusartikel.
Der Pflegegrad war fürs Erste bis zum Widerspruch vom Tisch. Aus welchem Grund sagte die Frau nicht. Vielleicht wusste sie es selbst nicht mehr. Vielleicht hatte es an einem Gutachten gelegen, an einem falschen Kreuz auf dem Formular, an einem Mitarbeiter, der an diesem Tag keine Lust mehr hatte, den Menschen hinter dem Antrag zu sehen. Wieder waren wir von Rettungsdienst und Feuerwehr es, die diese Systemschwäche kompensieren.
Der Gedanke an die Ressourcenverschwendung war dabei zweitrangig. Natürlich kosten diese wiederholten Einsätze von Rettungsdienst und Feuerwehr Geld und Personal. Aber viel schwerwiegender ist der menschliche Preis: die verlorene Lebensqualität, die zermürbende Belastung für die Frau, die wachsende Verzweiflung. Ich denke an all die Patienten, die ich gesehen habe, die nie einen Pflegegrad bekamen, obwohl sie dringend darauf angewiesen waren. Ich denke an die Fälle, die nie entschieden wurden, weil der Tod schneller war als das Gericht. Und ich denke, dass dieses System der Pflege schwerkrank ist.
Der Patient lag wieder in seinem Bett. Der Weg dorthin war eine logistische Meisterleistung. Wir verabschiedeten uns, die Tür fiel ins Schloss. Nur die Stille blieb zurück, die schwerer wog als der erschöpfte Atem des Patienten. Draußen schien die Sonne, doch in den dunklen Fluren dieser kleinen Wohnung lag ein Schatten der Hoffnungslosigkeit. Wir stiegen ins Fahrzeug. Ich blickte noch einmal zur Wohnung zurück und fragte mich, wie lange das mit den beiden noch gut gehen konnte.
Und irgendwo, in irgendeinem Amt, liegt ein abgelehnter Antrag auf Pflegegrad. Vielleicht wird er eines Tages bewilligt. Doch dann wird vielleicht niemand mehr da sein, um den Bescheid aus dem Briefkasten zu holen.
Bildquelle: mit Midjourney erstellt